Fluchschrift  Nr.3 / September 1997 / Frankfurt/M.
- Gegen das organisierte Deutschtum. Für den Wiederzusammenbruch - 
 
Inhalt:
- „Mein Gedächtnis hat stark Not gelitten, und ich vergesse sehr schnell.“
- HEIMATFRONT: „Europa arbeitet in Deutschland“
- Wehrmachtsausstellung: „Erinnern macht frei !“

- Wehrmachtsausstellung, Goldhagendebatte

und andere exhibitionistische Formen des Germanenkults (Cafe Morgenland)

- Wehrmachtsausstellung:

Von der Freiheit in der Tätergesellschaft (Projekt ABBRECHEN, Nürnberg)

- Babenhausen

 


„Mein Gedächtnis hat stark Not gelitten, und ich vergesse sehr schnell.“
(Deutscher Soldat)


In keinem anderen europäischen Land hätte die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht eine kontroverse Auseinandersetzung ausgelöst (Österreich selbstverständlich ausgenommen)

Dokumente, die zeigen, daß ganz normale Soldaten der Wehrmacht den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg führten, könnten anderswo niemanden erstaunen. In jedem europäischen Land verübten die Deutschen Massaker an der Bevölkerung; insbesondere in den Ländern der Sowjetunion, in Serbien und Polen gehören die mordenden, raubenden und brandschatzenden Deutschen in Wehrmachts-, SS- und Polizeiuniformen zum kollektiven Gedächtnis und sind in allen Formen der Erinnerung gegenwärtig, unzählig dokumentiert und archiviert.

Noch was in jenen Ländern alle wissen, wird im Land der TäterInnen zum "Skandal".
50 Jahre nach den Verbrechen der Wehrmacht und ihrer Soldaten, die mit "leichtem Herzen und sicherer Hand" (Sabine Reichel) mordeten, wird - je nach politischer Couleur - geleugnet, relativiert, verharmlost, ignoriert oder funktionalisiert. Und das, obwohl die Ausstellung
- nur einen Bruchteil der Verbrechen zeigt;
- andeutet, wo andere Quellen ausführlicher sind;
- um "Wissenschaftlichkeit" bemüht ist, wo Empathie mit den Opfern angemessen wäre;
- Augenzeugenberichte und Quellen ignoriert, wenn sie nicht von Deutschen (Tätern) sind.
Also: Sehr sorgsam mit der Gefühlswelt der deutschen Klientel umgeht. Wo Schuldzuweisung angebracht wäre, Anklage erhoben und Strafe gefordert werden müßte (viele Täter leben und Apologeten arbeiten noch), wird diskutiert, pädagogisiert, fraternisiert und solidarisiert.

Die TäterInnen werden zum Subjekt der Begutachtung und Betreuung. Die Opfer zum Objekt, um die "Leiden" der TäterInnen zu dokumentieren, zu illustrieren, zu diagnostizieren und zu therapieren. Je größer das Massaker, um so größer der "seelische Schaden" der Exekuteure, um so größer das Leiden der Kinder, denen SS-Papi nichts vom Massaker erzählt hat. Und wie muß erst ganz Deutschland leiden, wie groß muß der Schaden für die ganze Nation sein, wenn die Beteiligung der Deutschen am Vernichtungswerk hochgerechnet wird. 50 Jahre nach der Ermordung der europäischen Juden, nach dem Massenmord an Roma und Sinti, sowjetischen Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern, nach dem Mord an Behinderten und vielen anderen sind die "Rollen vertauscht". Nicht mehr die Verbrechen der Deutschen sind Gegenstand der Debatte, sondern das Gemüt der TäterInnen und deren nachkommenden familiären Mitleider. Täter werden zu Opfern. Die tatsächlichen Opfer verschwinden aus dem Interesse, aus den Debatten, weil die Deutschen selbst in die Opfer-Rolle geschlüpft sind. Die Opfer sind bloß Staffage, das Mittel zur Therapie der Tätergesellschaft. TäterInnen und Opfer haben nichts miteinander zu tun. Es scheint, als würden sie sich in verschiedenen historischen Welten befinden, in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, auf einem anderen Planeten.

Massenmörder und ihre Verbrechen werden in Deutschland im Jahre 7 der Wiedervereinigung, nach dem Zugewinn von 17 Millionen randalierenden Ossi-Mobbis, die nur durch die größte bewaffnete Macht der Opfer auf deutschem Boden - durch die Rote Armee - in Schach gehalten wurden, zum Material einer Mea-culpa-Show, die teils lauthals, teils weinerlich, die Versöhnung der Generationen in Richtung eines neuen großdeutschen Nationalbewußtseins eskaliert.

Was ist ein Deutscher ?
Wenn sich jemand in der S-Bahn über Migranten beschwert, daß sie zu laut sind ("Ich habe ja nichts dagegen, daß ihr euch überhaupt unterhaltet !"), dann handelt es sich zweifellos um einen Deutschen auf heimischem Territorium. Denn ein Deutscher kann vom Hauptbahnhof bis zum Bahnhof-West (2 Stationen) keine Nicht-Teutonen neben sich ertragen, ohne klarmachen zu wollen, wer der Herrenmensch sei. Der Deutsche hat Prinzipien (wenn schon, denn schon ...) und weist allem und jedem seine Ordnung zu.
Ständig fühlt er sich von Fremden belästigt und von Feinden umringt; die Katastrophe wartet an jeder Ecke, die Bedrohung ist mächtig und überall, in jeder Kleinigkeit lauert des Deutschen Tod und Leid oder auch nur der fehlende Vorteil. Ständig ist er unzufrieden "mit dem jeweiligen Status quo" und verspürt nicht nur "den Drang, Streit mit dem Nachbarn anzufangen."(Erich Kuby), sondern hetzt die "Nachbarn" auch noch gegeneinander, wie das Beispiel Jugoslawien zeigt.
Wenn ein Deutscher an der Welt leidet, sich selbst als Zu-Kurz-Gekommener bedauert, kann er es nicht still für sich tun und an sich halten, sondern muß (meistens kollektiv gestärkt) plärrend durch die Welt ziehen, um den Anderen sein Leid und damit seine Mission zu überbringen. Die ganze Welt soll an diesem Selbstmitleid, verkoppelt mit Sozialneid (den Schwächeren nix gönnen - nach oben bücken, nach unten treten) teilhaben. Und weil der Deutsche auch immer praktisch veranlagt ist, zu jedem Problem eine Lösung weiß, das Undenkbarste möglich macht, keine zivilisatorischen Grenzen einhält - weder was die Mode noch was die Politik oder Technik betrifft -, ist er auch in der ganzen Welt so beliebt.
Der mentale Mischmasch aus Überlegenheitsdünkel, Prinzipienreiterei, schwülstiger Seelen-Romantik und tödlichem Missionsdrang nennt sich deutsches Wesen. Und getreu dem Motto "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen !" Oder "Deutschland über Alles !", werden die Deutschen zum Amokläufer, zur tödlichen Gefahr im In- und Ausland. Mit den bekannten Folgen für ihre Opfer.
Zur Recht wird in Großbritannien jede schlechte Nachricht aus Deutschland als gute aufgenommen und Hitler ist bei britischen SchülerInnen der bekannteste Deutsche. Solche berühmten und bedeutenden Verbrecher-Persönlichkeiten wie Joseph Goebbels und Hermann Göring sind noch unter den ersten Zehn zu finden.

Normalerweise sind die Teutonen eher von der Sorte Mensch, die nichts vergessen. Vor allem nicht, was ihnen tatsächlich oder vermeintlich angetan wurde. Aber manchmal (leider viel zu selten), in Situationen wo diese Herrenmenschen kleine Würstchen sind, und sie vor einer mächtigeren Macht über ihre Verbrechen Rechenschaft ablegen müssen, wissen sie auf einmal überhaupt nichts mehr. Sie können sich an nichts mehr erinnern, waren überhaupt nicht dort wo sie waren, haben sich nicht gesehen und sich nicht gehört, haben bei ihren größten Verbrechen nur die Armeepferde gefüttert und gestreichelt. Dann kommen aus den Hälsen von Dichtern und Denkern Sätze wie: "Was ich damals gedacht habe und ob ich überhaupt etwas gedacht habe, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich kann auch heute nicht mehr sagen, ob ich durch die damalige Propaganda zu beeinflußt war, daß ich mich dem mir erteilten Befehl nicht widersetzt habe."(Gaswagenfahrer Walter Burmeister) Dann sind sie auf einmal keine Plärrer mehr, sondern seltsam kleinlaut. Diejenigen, für die Mitleid ein Zeichen von Schwäche ist, betteln dann um Mitleid, waren keine Täter, sondern sind Opfer. Die Mörder aus "Fritzlandien" gehen dann zum "Angriff der Taschentücher" über. Eine "riesige Gaunerbande, die in dem Moment auseinanderrennt, wo sie nach der Verantwortung gefragt wird". (Ilja Ehrenburg)
Vorher am Hals, hat man die Deutschen jetzt auf einmal an den Füßen. Wenn sie an ihre Verbrechen (auch darin Weltmeister) erinnert werden, dann setzt das Bewußtsein (meistens auch der Körper) routinemäßig bis zur Verhandlungsunfähigkeit aus; der Vergaser kalkuliert innerlich, der Motor stottert und die ganze Sache verläuft sich bei der deutschen Justiz im Sand. Aber beim nächsten Mordauftrag haben sich die Deutschen wieder gefaßt. Dann werden sie wieder dort ansetzen, wo sie die Erfahrungen zum Völkermord gemacht haben.
 

Der Vernichtungskrieg beginnt mit dem Überfall auf Polen

Am 1.September 1939 überfielen die Deutschen Polen und setzten damit ihre jahrelangen Drohungen gegen das Nachbarland in die Tat um. Für viele war der Krieg die konsequente Durchsetzung des "berechtigten Dranges" nach den "Ostgebieten". Seit den Kreuzzügen im 12. Jahrhundert ist der kollektive Traum von der "Germanisierung der Ostgebiete" für die östlich von Deutschland lebende "nichtteutonische" Bevölkerung ein Alptraum - die Wehrmacht wird ihm alle Ehre machen.

Es sollte ein Krieg werden, wie ihn die Menschheit bisher noch nicht kannte: Von Anfang an ein Vernichtungskrieg. Zuerst gegen Polen, dem jegliche Existenzberechtigung als Staat abgesprochen wird und dessen Menschen als "Untermenschen" umgebracht oder als Arbeitssklaven mißhandelt werden sollen. Für Wehrmacht, SS und Bürokratie wurde das neubesetzte polnische Territorium zum 'Experimentierfeld' für die Ermordung der Juden, die Ausplünderung der besetzten Länder und die Verschleppung ihrer Bevölkerung zur Zwangsarbeit nach Deutschland, und es diente als riesiges Aufmarschgebiet gegen die Sowjetunion, gegen die "jüdisch-bolschewistische Gefahr aus dem Osten".

In einer Ansprache, die Hitler am 22. August 1939 (vor dem Überfall auf Polen) an die bestellte Generalität hielt, sagte er: "So habe ich meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir Lebensraum, den wir brauchen." Der Kriegszweck war Sieg, Vertreibung, Ausbeutung, Beherrschung und Ermordung, durchgesetzt von vier tragenden Säulen des Nationalsozialismus, Wehrmacht, SS, Vierjahresplan und Verwaltung. Das ganze getragen von einer Bevölkerung, der jegliches humanes oder Mitleidsgefühl abhanden gekommen war - wenn sie es je hatte.

Ein Fünftel der polnischen Bevölkerung werden die Deutschen im Rahmen ihrer Vernichtungspolitik in den folgenden sechs Jahren ermorden, darunter 2,3 Millionen Kinder und 3 Millionen polnische Juden. Insgesamt sechs Millionen Tote. „Von den 18 am Krieg gegen das Reich beteiligten Ländern sind die Menschenverluste Polens, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, die höchsten.“ Und trotzdem „erscheinen ( heute im öffentlichen Bewußtsein der BRD) die Deutschen nicht als Schuldner der Polen, sondern die Polen als Schuldner der Deutschen.“ (Erich Kuby)
Eine der aktuellsten Frechheiten in diese Richtung ist die Forderung der Bundesregierung nach Rückgabe der „Beutekunst“ von Polen.
 

„Die schlimmsten Henker in diesem Gebiet waren die deutschen Siedler.“


Die "Volksdeutschen" und zu Recht Vertriebenen tun sich als Revanchisten besonders hervor. Hier will sich niemand daran erinnern, wie sie oder ihre Vorfahren sich massenweise der deutschen Wehrmacht zu Verfügung gestellt haben, bzw. als Soldaten in Polen mit einfielen.

So "leisteten den deutschen Truppen viele der in Polen ansässigen Deutschen sowie ein großer Teil der vor Ende August 1939 nach Deutschland geflüchteten 70 000 polnischen Bürger deutscher Nationalität Hilfe. Sie dienten in Freiwilligen-Abteilungen oder standen den Aggressoren als Ortskundige zur Seite."(Czeslaw Madajczyk) Schon vor dem Krieg formierten sie sich zu einer "fünften Kolonne" der Nazis, planten und führten Sabotageakte durch. Später, als Ortskundige, dienten sie Wehrmacht und SS/SD als Pfadfinder, und diese konnten sich bei ihrem Mordauftrag auf die Denunziationslisten der "Volksdeutschen" (die wahrscheinlich mit deutscher Gründlichkeit geführt wurden) verlassen.

Deutsche Minderheiten sind für Deutschland das permanente Recht auf Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates. Dies und der damit verkoppelte Grundsatz, "daß das Mutterland der politische Hüter der Minderheiten ist, bedeutet nicht nur die Ablehnung rationaler internationaler Beziehungen, sondern auch das Ende der inneren Einheit jedes Staates mit einer beträchtlichen Minderheit. Er macht das Mutterland zum Schiedsrichter bei Streitigkeiten zwischen dem Staat und der in ihm lebenden Minderheit. ... - mit anderen Worten Rassenimperialismus. Die vorgeblich rassischen Bindungen sollen stärker sein als juristische oder politische Bande. Die Abstammung bekommt Vorrang vor der Staatsangehörigkeit. 'Deutschstämmige' in der ganzen Welt bleiben Deutsche, Angehörige der deutschen Volksgruppe, dem 'Volksgruppenrecht' unterworfen. Die Fünfte Kolonne wird zur Institution erhoben (Minderheitengruppen innerhalb Deutschlands bilden natürlich eine Ausnahme). Die Anerkennung einer deutschstämmigen Volksgruppe als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist mit der Forderung nach voller Autonomie und gleicher Beteiligung an der Regierung gekoppelt."(Franz Neumann) Ein Schurke wer da Schlechtes denkt. "Die schlimmsten Henker in diesem Gebiet waren die deutschen Siedler. Sie waren hier zahlreich. Russische Ortsnamen wechselten mit deutschen: München, Rastatt usw. Zusammen mit diesen Namen brachten die deutschen Siedler blutige Grausamkeiten mit nach Rußland." (W. Inber, Schwarzbuch, S.147) Die Region in Chile, in der viele chilenische Deutsche leben, ist die einzige der 13 chilenischen Regionen, die mit klarer Mehrheit beim Referendum für eine Fortsetzung des Pinochet-Regimes gestimmt hatte. Im deutschen Sportclub von Santiago de Chile wurden bis vor ein paar Jahren keine Juden als Mitglieder aufgenommen. Eine deutsche Minderheit im Land ist schlimmer als die Pest. Was nicht heißt, daß sie im Mutterland besser zu ertragen wäre. Ein Gauner, wer an einen Zusammenhang zwischen Bayern als, Hort der Vertriebenen, und den cholerischen Anfälle gegen die Wehrmachtsausstellung denkt.
 

Im Mittelpunkt des nationalsozialistischen Krieges stand die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im eigenen und in den überfallenen Ländern. Der Antisemitismus war ein treibendes Motiv dieses Feldzugs. Die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung in Deutschland sollte auf alle Juden, die erreichbar waren, ausgeweitet werden, wie es Hitler in seiner Reichstagsrede vom 30.Januar 1939 angekündigt hatte: "Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa."

Mit dem Vorrücken der Wehrmacht wurde dieser Plan unverzüglich in die Praxis umgesetzt. In den ersten sechs Wochen wurden 16.336 Zivilisten hingerichtet, davon waren mindestens 5000 Juden.
Jeder Tag, jede Stunde wird genutzt, um das Mordprogramm zu eskalieren. Die Terrormaschine rollt über die polnischen Juden hinweg. Die Orte und Opfer sind in Polen bekannt. In deutscher Herrenreitermanier ignoriert oder geringschätzig behandelt, in Vertriebenen-Genöhle relativiert ("Bromberger Blutsonntag"), in der Außenpolitik revanchistisch aufbereitet.

Doch bleibt es deutsches Verbrechen, an was hier beispielhaft erinnert werden soll: Am dritten Tag des Überfalls auf Polen wurden 17 Juden in Wieruszow ermordet, 180 in Czestochowa, am 4.September 20 in Konskie, 80 in Zloczew, 90 in Zarki, am 5.September 24 in Ozorkow - immerfort Tag für Tag. Die Spur des Terrors gegen die jüdische Bevölkerung Polens ist endlos lang. Zehntausende wurden vertrieben, gezwungen die Grenzflüsse zur Sowjetunion zu überqueren. Hunderte ertranken oder wurden von deutschen Soldaten beschossen und getötet. Nachdem sowjetische Soldaten hunderte Flüchtende daran hinderten, sowjetisches Gebiet zu betreten, fielen die Deutschen wieder über sie her. So überlebten von 1800 Juden aus der Stadt Chelm nur 400 einen solchen Marsch.

Bevor die Deutschen den Sowjets die Stadt übergaben, ermordeten sie in Przemysi 500 Juden (September 1939). In Zambrow 250 ermordet; in Skobly nicht weniger als 360; in Szalas alle männliche Juden, die über fünfzehn Jahre alt waren, entweder mit Maschinengewehren niedergeschossen oder in eine Schule gesperrt und verbrannt; im Oktober 1940 wurden 290 Juden in einem LKW mit den Abgasen erstickt. 1200 Polen wurden von Oktober - Dezember 1939 in einem Wald bei Piasnica Wielki erschossen.
Mit den 300 000 Kriegsgefangenen der polnischen Armee deportierten die Deutschen auch 61 000 jüdische Soldaten nach Deutschland. Hier wurden sie von den polnischen Soldaten getrennt und in besonderen Konzentrationslagern gequält und getötet. In Stablack (Ostpreußen) wurden sie von den Aufsehern so mißhandelt, daß täglich zwischen zehn und fünfzehn Juden starben. Ihre Essensrationen waren kleiner als die anderer Gefangener, und sie mußten besonders schwere Arbeit leisten.

In Rathorn (bei Dortmund) bestand die Ration für zwei Tage und für fünf Personen aus einem Laib Brot und einem halben Topf Suppe. "In Neubrandenburg verfügte der deutsche Kommandant im Oktober 1939, daß alle 'arischen' Kriegsgefangenen Anspruch auf die Uniformen und persönlichen Habseligkeiten ihrer jüdischen Mitgefangenen hätten. Die Folge war, daß die Juden halbnackt und barfuß zur Arbeit geschickt wurden und viele von ihnen erfroren."(Martin Gilbert)

Die polnischen Kriegsgefangenen wurden zum "Arbeitseinsatz" in der ostdeutschen Landwirtschaft gezwungen. Sie waren die ersten von 1,7 Millionen polnischen Zwangsarbeitern, die während des Krieges nach Deutschland deportiert wurden. Im Gefolge der Wehrmacht waren Beamte der deutschen Arbeitsämter mitmarschiert und nahmen in Polen (Generalgouvernement) sofort ihre Arbeit auf: sie erfaßten die Arbeitslosen, trieben die Juden zur Arbeit in "Zwangsarbeitstrupps" und starteten eine Kampagne zur Anwerbung von Zivilarbeitern. Die Zahl der "Freiwilligen" blieb gering. Der deutschen Propaganda, mit der Arbeit im `Reich` könne man die Familie zu Hause ernähren, glaubte man nicht und bald hatte sich herumgesprochen, was die Polen in Deutschland erwartete.

Die Rekrutierungen durch die Besatzungsmacht wurden Zug um Zug brutaler: ganze Jahrgänge wurden zur Arbeit in Deutschland verpflichtet, Dörfer und Bezirke mußten Arbeiterkontingente stellen und ab Frühjahr 1940 machten SS und Polizei regelrecht Treibjagd auf Männer, Frauen und Kinder. In den großen Städten umstellten sie Schulhöfe, Märkte und Kinos und verfrachteten die Gefangenen zur Zwangsarbeit ins "Reich". Bis zum Mai 1940 verschleppten sie mehr als eine Million ArbeiterInnen aus dem "großen polnischen Arbeitslager" (Hitler) nach Deutschland.

Ende 1940/Anfang 1941 errichteten die Deutschen die Ghettos in Polen, wovon das Warschauer Ghetto mit 400 000 Juden das größte war. Die Lebensbedingungen im Ghetto waren so entsetzlich, daß zwischen Januar und Juni allein in diesem Ghetto 13 000 Juden verhungerten und in Lodz im gleichen Zeitraum 5 000. "Bevor die `großen Maßnahmen` der `Endlösung` zur Durchführung gelangten, waren im `Generalgouvernement` schon auf traditionelle Weise eine Million Polen und Juden in Einzelaktionen erschossen oder aufgehängt worden, auf offener Straße und auf den Marktplätzen. Nahm jemand daran Anstoß, der nicht direkt zu dem Mordkommandos gehörte ? Nicht im geringsten !" (Erich Kuby)
Die Ghettos wurden zu Sammelstellen für die späteren Transporte in die Vernichtungslager von Chelmno, Belzec, Treblinka, Sobibor und später Auschwitz, wo schätzungsweise 1,2 bis 1,6 Millionen Menschen ermordet wurden. "Auschwitz ist der größte Friedhof der menschlichen Geschichte."(Enzyklopädie)

Am Ende des Krieges, mit der Befreiung Polens durch die Rote Armee, werden von fast 3 Millionen polnischen Juden den Holocaust nur 10% überlebt haben.1) Im Jahre 1968 leben in Polen vielleicht noch 5000 Juden.
 

„Ich habe sie nicht hineingeworfen, sondern hineingelegt.“
(Polizist Dudin auf die Frage, ob er die Kinder tatsächlich lebend in die Grube geworfen habe.)

Kaum vorstellbar, daß die Verbrechen, die die Deutschen in den ersten Wochen und Monaten in Polen verübten, noch übertroffen werden konnten. Und doch waren sie die "Vorbereitungen", ein riesiges "Experimentierfeld", für eine Dimension des Völkermords von bisher unbekanntem Ausmaß. Ein Völkermord, der seinen Höhepunkt, seine Zuspitzung in der Errichtung von Vernichtungszentren hatte, in denen Millionen getötet wurden, vor allem Juden. Noch bevor dort systematisch und massenhaft gemordet wurde, zogen die deutschen Todesschwadronen durch die besetzten Gebiete der Sowjetunion und hinterließen ihre Terrorspur. Raul Hilberg schätzt, "daß mehr als 25% der Holocaust-Opfer erschossen worden sind. Über 50% kamen in den sechs großen, mit Vergasungsanlagen ausgerüsteten Todeslagern um. Der Rest fand unter den fürchterlichen Bedingungen der Ghettos, Arbeits- und Konzentrationslager, Todesmärsche usw. den Tod."

Geistig und moralisch abgedriftet sind Bahamas-Linke in ihrer Kritik an Goldhagen: „Nicht umsonst macht sich seine Darstellung an den Formen des Mordens fest, die im Gegensatz zu der fabrikmäßigen Vernichtung in Auschwitz und anderswo individuelle Täter aufweisen. Im System der Vernichtungslager und im Projekt der totalen Vernichtung verschwindet der Gegensatz zwischen der individuellen Tat und der Politik des Souveräns jedoch endgültig. ... Eine subjektivistische Theorie des Antisemitismus kann immer nur dessen ideologischen Abdruck aufnehmen, niemals aber seine Logik und seine Genese rekonstruieren.“ (Stefan Vogt/Andreas Benl) Die Antikapitalisten „interessiert“ vor allem die „Form des Mordens“, die „industrielle Vernichtung“ von Auschwitz. Dabei verschwindet allerdings nicht der Gegensatz zwischen individueller Tat und der Politik des Souveräns, sondern der zwischen Linksdeutsch und Verstand. Sie gehören einer Fraktion innerhalb der Linken an, die die Singularität der Verbrechen der Deutschen nur in antikapitalistischen Kategorien begreifen wollen.
Auschwitz ist für sie kein konkretes Verbrechen an den Juden, sondern eine werttheoretische Frage und insoweit eine Abstraktion. Deshalb denunzieren sie Goldhagens Darstellung als an „den Formen des Mordens „ orientiert, als „subjektivistische Theorie“. Wahrscheinlich können sie die konkrete „Form des Mordens“ nicht ertragen und verziehen sich in die schöne Welt der Spekulation. Die Ermordung der Juden verschwindet in der Metapher „Auschwitz“, in einer Abstraktion.

Was ihnen dabei völlig abhanden kommt, ist das was Gorenstein den „Geist der Vernichtung“ nennt:
“Spricht man von nazistischen Greueltaten, so denkt man zuerst an die Vernichtungslager: Auschwitz, Treblinka usw... Sicher, wenn man von der Technologie der Vernichtung spricht, so sind der Betrieb und die Effektivität solcher Einrichtungen mit der handwerklichen Arbeit eines Erschießungskommandos nicht zu vergleichen. Spricht man aber vom Geist der Vernichtung, so ist das Vernichtungshandwerk der Jahre 1941 und 1942 genau dieses Geistes Kind. Produktionstechnologien können verändert oder aufgehoben werden. Der Geist bleibt. Von den Urgroßvätern und Großvätern wird er an die Enkel weitergegeben. ...
Die Lager waren geschlossene Betriebe, ausgestattet und mechanisiert nach dem neusten Stand der Technik. Sie wurden von einer relativ kleinen Anzahl von arbeitenden SS-Leuten und ihren Handlangern bedient. Im lauten Getöse der Ent-hüllungsempörung konnte ein hell-höriges Ohr ein Flüstern vernehmen: Das deutsche Volk, die Masse der Michel in Uniform, hatte nichts mit diesen Lagern zu tun.
Anders stand es um das `Handwerk` im Sommer und Herbst der Jahre 1941 und 1942. In vielen ukrainischen, weißrussischen und baltischen Kleinstädten wurden Zehntausende durch Genickschuß getötet. Das geschah sogar entgegen dem Befehl Himmlers, doch die militärische Leitung behandelte solche Übertretungen mit Nachsicht, betrachtete sie als eigenwillige soldatische ´Unterhaltung´.
Im übrigen wurde die Arbeit bei den bekannten Schlachtereien z.B. im Kiewer Babij Jar, bereits rationalisiert: Man stellte Maschinengewehre auf. Doch sind Maschinengewehre immer noch keine Gaskammern. Bei Erschießung aus nächster Nähe bleibt noch viel Handwerkliches. Man mußte über die Leichen steigen. Die Wäschereien arbeiteten in Sonderschichten, wuschen Militäruniformen, Hosen und Unterhosen und reinigten Offiziers- und Soldatenstiefel von Blut. ...
So wie sich die handwerkliche Arbeit, die ja ´beseelt´ ist, sich von der Arbeit der ´seelenlosen´ Maschine unterschied, hatte auch das deutsche ´Handwerk´ vom Sommer und Herbst des Jahres 1941 sein ´schöpferisches´ Gesicht.“ (Friedrich Gorenstein)


Schreiben an den Leiter der Gruppe II D im Reichsicherheitshauptamt Berlin, SS-Obersturmbannführer Walter Rauff, zuständig für die technische Weiterentwicklung der Gaswagen. „Berlin, den 5. 6. 1942
Geheime Reichssache
Einzigste Ausfertigung
“I. Vermerk
Betrifft: Technische Abänderungen an den im Betrieb reingesetzten und an den sich in Herstellung befindlichen Spezialwagen
Seit 12. 1941 werden beispielsweise mit 3 eingesetzten Wagen 97 000 verarbeitet, ohne daß Mängel an den Fahrzeugen auftraten. Die bekannte Explosion in Kulmhof ist als Einzelfall zu bewerten. Ihre Ursache ist euf einen Bedienungsfehler zurückzuführen. Zur Vermeidung von derartigen Unfällen ergingen an die betroffenen Dienststellen besondere Anweisungen. Die Anweisungen wurden so gehalten, daß der Sicherheitsgrad erheblich heraufgesetzt wurde.
i.A. Just“

 
Wer sich die Frage stellt, ob die Wehrmacht an diesen Verbrechen beteiligt war, will vom Verbrechen nichts wissen. Der fragt sich nicht, wie es möglich sein soll, so viele Menschen umzubringen ohne die Wehrmacht, als Stütze der Kriegsführung, der Eroberung des Territoriums und der Militärverwaltung. Nichts lief ohne die Wehrmacht. Den Opfern war es egal welche Uniformen die Deutschen anhatten, die sie umbrachten. Für sie waren es immer "die Deutschen". Wolfram Wette merkt 1990 an: "Die sowjetischen Augenzeugenberichte in diesem Buch lassen erkennen, daß diese Kontroverse in der Sowjetunion auf wenig Interesse stoßen würde. Denn für die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges war es bedeutungslos, ob es sich bei den Tätern um Angehörige der Wehrmacht, der SS, der Einsatzgruppe, der Sicherungs- und Polizeiverbände oder anderer Organisationen handelte."

Was die Beteiligung der Wehrmacht und ihrer Soldaten am Vernichtungsprogramm betrifft, sprechen vier militärische Befehle der Generalität an die Truppen im Vorfeld des Überfalls auf die Sowjetunion eine deutliche Sprache:
- Der "Erlaß über die Zusammenarbeit des Heeres mit den Einsatzgruppen" befahl und organisierte die Unterstützung der "Einsatzgruppen" durch die Wehrmacht;
- der "Gerichtsbarkeitserlaß" garantierte freie Hand für jeden Deutschen im Terror gegenüber der sowjetischen Bevölkerung. "Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist." Nach diesem "Barbarossa-Erlaß" ging jeder Deutsche oder Kollaborateur, straffrei aus, wenn er einige, hunderte oder tausende Juden erschoß; bestraft wurde aber, wer gegen "die Manneszucht oder die Sicherung der Truppe" verstieß.
- Der "Kommissarbefehl" bestimmte, daß gefangengenommene Kommissare der Roten Armee von der Truppe an Ort und Stelle zu erschießen seien. So hätten die Weizsäckers, Schmidts, Dreggers, Fetschers nicht im geringsten gezögert und auch nicht das geringste Unrechtsbewußtsein empfunden, wenn sie den Propagandaoffizier Lew Kopelew erschossen hätten.
- Durch die "Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland" wurden die drei Millionen Soldaten des "Ostheeres" auf die Vernichtungspolitik im Krieg ausgerichtet und eingestimmt: "Dieser Kampf verlangt rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jeden aktiven und passiven Widerstandes." Damit war der Freibrief ausgestellt, jeden zu erschießen, zu erhängen oder zu Tode zu foltern. Aus der antisemitischen Kriegsführung folgte: Jude sein, bedeutete den Tod.

Alle Soldaten der Roten Armee waren faktisch zum Tode durch Erschießen, Verhungern und Zwangsarbeit verurteilt. "Gegenüber allen Angehörigen der Roten Armee - auch den Gefangenen - ist äußerste Zurückhaltung und schärfste Achtsamkeit geboten, da mit heimtückischer Kampfweise zu rechnen ist. Besonders die asiatischen Soldaten der Roten Armee sind undurchsichtig, unberechenbar, hinterhältig und gefühllos." Todesschwadronen "durchkämmten" die Kriegsgefangenenlager nach asiatisch aussehenden Soldaten, um sie zu erschießen. Im Mai 1941 erteilte Heydrich den Führern der "Einsatzgruppen" den Befehl zur Ermordung aller Juden, aller "Asiatisch-Minderwertigen", aller kommunistischen Funktionäre und Zigeuner.
Von ca. 5 350 000 sowjetischen Kriegsgefangenen sind mindestens 2 545 000 - 3,3 Millionen durch Exektutionen, Folter, Hunger, Krankheit umgebracht worden. Als im November 1941 beschlossen wurde, die sowjetischen Kriegsgefangenen als Zwangsarbeiter nach Deutschland zu deportieren, kamen von drei Millionen Gefangenen nur noch 160 000 in Deutschland an.

Gemeinsam auf die Besonderheit des Krieges gegen die Sowjetunion vorbereitet, kooperierten Wehrmacht und mobile Tötungskommandos der SS und Polizei sehr gut. Schon in der "Planungsphase des Rußlandfeldzuges" wurde der "Einsatz der Sicherheitspolizei und des SD im Verband des Heeres" einvernehmlich geregelt. Sie konnten auf "Erfahrungen" zurückgreifen: Die Zusammenarbeit zwischen Heer und SS hatte sich schon im Polenfeldzug 'bewährt'. Durch Armeebefehle und Erklärungen von Truppenführern, Kommandanten und Generälen wußten die Soldaten, wie sie Juden, Kommissare, kommunistische Funktionäre, Freischärler etc. zu "behandeln" hatten.

In den ersten 2 Monaten nach dem Überfall auf die Sowjetunion brachte allein die "Einsatzgruppe A" (es gab vier solcher "Gruppen") im Rücken der einmarschierenden Wehrmacht 250 000 Juden um, das sind durchschnittlich 4000 Morde an einem Tag und 250 pro Mann dieser Mord-Truppe. Deutsche Einheiten wie "Einsatzgruppen", "Höhere SS- und Polizeiführer", "Bandenbekämpfungsverbände" und die deutsche Armee töteten bei ihren "Aktionen" und "Operationen" in der Sowjetunion in einem Zeitraum von 3 Jahren mehr als eine Million Juden. Und dabei sind noch nicht diejenigen Opfer zugerechnet, die durch die rumänischen Truppen umgebracht wurden oder in den Ghettos, Lagern, auf freiem Feld und in den Wäldern aufgrund der fürchterlichsten Lebensbedingungen starben.
Dieses „Ergebnis“ ist nicht mehr eine Frage der Moral, sondern eine Frage der Arbeitsmoral (Wolfgang Pohrt). „An jedem Ort vernichteten die deutschen Okkupanten die gesamte jüdische Bevölkerung, die ihnen in die Hände fiel. Alle - ohne Ausnahme - wurden zur Hinrichtung geführt. Kinder, die noch nicht laufen konnten; Gelähmte und Kranke sowie hinfällige Alte, die sich nicht mehr aus eigener Kraft bewegen konnten, wurden in Laken zur Hinrichtungsstätte geschleppt oder auf Lastwagen und Fuhrwerken dorthin transportiert. ... Nach Abschluß der Vorbereitungen gab es in der Regel nur noch einen einzigen Grund, der die Hinrichtung verzögern konnte: Die SS-Leute, Polizeiregimenter und Einsatzkommandos des SD waren von den Dimensionen des Massenmordes überfordert, da zur gleichen Zeit faktisch Millionen Kinder, Frauen, Männer und Greise in den Tod geschickt wurden.“ (Wassili Grossmann)


25.6./26.6.1941
30.6.-3.7.1941
05.8.-7.8.1941
27.8.1941
31.8.-6.9.1941
15.9.1941
September 1941
13.9.-15.9.1941
15.9.-22.9.1941
25.9.1941
26.9.1941
29.9./30.9.1941
04.10.1941
04.10.1941
13.10.1941
17.10.1941
20.10.1941
20.10.1941
23.10.-25.10.1941
28.10.1941
28.10.1941
28.10.1941
31.10.1941
07.11.1941
07.11.1941
28.10.-7.11.1941
06.11.-08.11.1941
08.8.-9.11.1941
14.11.1941
21.11.1941
29.11.1941
30.11.+7./8.12.1941
08.12.1941
18.12.1941
30.12.1941
800
4000
4500
14000
10-12000
12000
22000
3000
17-18000
1000
8000
33771
537
1500
11000
3-4000
8000
8-9000
35000
9000
2000
2000
4000
19000
12000
7-8000
21-23000
12-13000
11000
5000
4500
27-28000
4000
1500
455
Kaunas/Viliampole
Lwow
Pinsk
Kamenez-Podolsk
Wilna
Berditschew
Cherson/Nikolajew
Hancewicze
Wilna
Olkieniki
Swieciany
BabiJar
Genitschesk
Kowno
Dnepropetrowsk
Odessa
Borissow
Mariupol
Odessa
Kowno
Lachowicze
Lida
Kleck
Kisselwitsch
Minsk
Krementschug
Rowno
Daugavpils
Simferopol
Polozk
Kertsch
Riga
Nowogrodek
Jalta
Dshankoi
Eine unvollständige Liste der Ermordung sowjetischer Juden in den 6 Monaten von Juni bis Dezember 1941 
Am 30. November 1941 wurden in Riga 10 600 Juden getötet; an anderen Tagen in Kamenec Podolsk 23 600 Menschen, in Berditschev 1 303, in Dnjepropetrovsk 10 000, in Rovno 15 000 und in einer "Großaktion" gegen das Minsker Ghetto 2 278 Juden. Am 7. November 1941 fast 20 000 Juden in Bobruisk, am 20. Oktober ungefähr 8 000 Juden aus Borissow usw. usw...
In Babij Jar wurden von den Deutschen 100 000 Menschen ermordet; an zwei Septembertagen im Jahre 1941 erschossen die Männer der "Einsatzgruppe C" 33 771 Männer, Frauen und Kinder. Das war die Hälfte der noch in Kiew verbliebenen jüdischen Bevölkerung. Kein Tag verging ohne Massenmord.
Jeder Tag ist in der Sowjetunion ein Gedenktag an zigtausende Opfer.

Das Vernichtungsziel der Nazis und die Gesinnung der meisten Soldaten standen nicht im Widerspruch zueinander. Und nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, daß die "einfachen" Soldaten an diesen Massakern nicht beteiligt gewesen waren oder nichts davon wußten. Genausowenig können wahrscheinlich die "einfachen" Eisenbahner ausgenommen werden: "Unmittelbar beteiligt an den Morden waren deutsche Eisenbahner und Flaksoldaten. Ich habe selbst gesehen, wie Eisenbahner, kommandiert von Offizieren, in das Ghetto einmarschiert und auch wieder abmarschiert sind." Iwan Ossipowitsch Kassimow, Schwarzbuch S.382)

Um etwas über die Vernichtungsmentalität und den alltäglichen Antisemitismus der Mannschaften zu erfahren, genügt ein oberflächlicher Blick in die Originale, das heißt in Schriftstücke, die erstellt wurden, als der deutsche Soldat noch an den "Endsieg" glaubte: Meldungen, Tagebücher, Feldpostbriefe, die Erinnerungsfotos an Gehängte, die Schnappschüsse von Exekutionen, die bei gefangenen und gefallen deutschen Soldaten von der Roten Armee gefunden wurden. In einem Feldpostbrief eines Kompaniechefs an seinen Bruder über die Arbeit seiner Wehrmachtseinheit: "'Wir sind jetzt fleißig auf der Jagd! Jeden Tag mußten mehrere jüdische Partisanen daran glauben. Da geht es immer wild her...Wir räumen auf mit der Bande, das wäre was für Dich" oder "'Machen wir uns doch nichts vor', so ein Polizist über Kollegen, die an Juden-Massakern teilnahmen, 'das war ein Fest, da gab es Gold und Geld ... Bei den Judenaktionen war immer was zu holen'". Oder aus einem Tagebuch: "6. Dezember: Wir haben die Stadtkommandantur (von Charkow) an die 57. I.D übergeben. Damit ist viel Arbeit von uns genommen. Täglich gingen Haufen von Meldungen ein: Plünderungen von Soldaten bei der Zivilbevölkerung, Wegnahme von Nahrungsmitteln, unrechtmäßige `Beschlagnahme` von Gegenständen, Vergewaltigung von Frauen."

Die einfachen Soldaten waren alle wie wild auf die "Schauspiele": Sie meldeten sich freiwillig zu den Massakern, "nahmen lange Wege in Kauf, um beim blutigen 'Schützenfest' die besten Plätze zu ergattern, sie fotografierten, man konnte schon von Hinrichtungstourismus sprechen."(Ernst Klee)
So arg drängelten sie zum Massemmord, daß es für die Wehrmachtsführung zu Problemen führte: die militärische Geheimhaltung war gefährdet und es kam zu Kompetenzstreitigkeiten.
"Weit ernster als das mangelnde 'Verständnis' für die Massenhinrichtungen war ein anderes Problem, dessen sich die Kommandeure der Truppeneinheiten bald voller Bestürzung gewahr wurden: Für die Soldaten stellten die Erschießungen eine Sensation dar. Viele Jahre, nachdem er Zeuge eines solchen Vorgangs geworden war, erinnerte sich ein ehemaliger Soldat: 'Obwohl es uns verboten war, da hinzugehen, es zog uns magisch an.' Sie schauten zu, fotografierten, schrieben Briefe und unterhielten sich über das Gesehene. Rasch verbreiteten sich ihre Berichte über die besetzten Gebiete und sickerten allmählich bis nach Deutschland durch." (Raul Hilberg)

"Sensationsgier und Gerüchteumlauf waren nicht die einzigen Sorgen der Wehrmacht; die Aktionen der mobilen Tötungseinheiten hatten noch ein anderes, in seinen Implikationen weitreichenderes und störenderes Problem geschaffen: Es kam nämlich vor, daß Juden von Wehrmachtsangehörigen, die ohne Befehl oder Weisungen handelten, getötet wurden."

"Wenn er aus irgendeinem Grund den Befehl erhielt, SS und Polizei bei ihrer Arbeit zu helfen, so erwartete man von ihm, daß er diesen Befehl befolgte. Tötete er jedoch spontan einen Juden, aus freien Stücken und ohne Befehl, nur weil er töten wollte, dann hatte er einen abnormen Akt begangen, der vielleicht eines 'Osteuropäers' (etwa eines Rumänen) würdig sein mochte, für Disziplin und Ansehen der deutschen Wehrmacht jedoch höchst gefährlich war. Hierin lag der entscheidende Unterschied zwischen dem Soldaten, der sich zum Töten 'überwindet', und jenem, der mutwillig Greueltaten begeht. Ersterer wurde als ein guter Soldat und treuer Nazi betrachtet; letzterer war ein Mensch ohne Selbstkontrolle, der nach seiner Rückkehr in die Heimat eine Gefahr für die Gemeinschaft darstellte." (Raul Hilberg)
 

Auch kritischen HistorikerInnen und Linken fällt es schwer, gegen den kollektiven nationalen Mythos zu verstoßen, der lautet: Die Soldaten der Wehrmacht waren an der Ermordung der Juden, Roma und Sinti, Kriegsgefangenen, PartisanInnen, Zivilbevölkerung nicht beteiligt.


"Gesamtzahl der Gefangenen: 10 940, 10 431 erschossen.
Gemachte Beute: 13 Zelte
11 leichte MG
21 automatische Gewehre
28 Inf. Gewehre
8 MP
19 Pistolen und Trommelfeuer
2 Leuchtpistolen,
Munition, Handgranaten, Sprengpulver,Radiogeräte, Handwerkszeug,
Lebensmittel, Ausrüstungsgegenstände.
Bei einer Säuberungsaktion im Raume Sluzk-Kleck wurden durch das Res. Pol. Bat 11:
5 900 Juden erschossen."
(Dieser Bericht des Wehrmachtsbefehlshabers „Ostland“ vom 19.11.1941 gibt Auskunft über die "Tapferkeit und Ehrenhaftigkeit" des deutschen Soldaten im "Partisanenkampf".)


Ingrid Strobl bspw. hat viel Verständnis für die Nöte der "einfachen" Mörder der Wehrmacht. Soviel Einfühlsamkeit, daß sie ihre Anbiederung an die Frauen des jüdischen Widerstandes für einen Moment aufgibt und sie für ihre fehlende Differenzierung kritisiert.

Wir erfahren von ihr, daß "viele der Soldaten, die in Hitlers Krieg geschickt wurden, mit ihrer `Aufgabe` weder einverstanden, geschweige denn darüber glücklich waren" und daß sie "Angst hatten: vor den Partisanen, vor der Roten Armee, vor den eigenen vorgesetzten Offizieren, und auch Angst zu desertieren". Auf seiten des Widerstandes waren die "bewaffneten Kämpfer/innen ... sich dessen bewußt" und als "Internationalisten bedachten sie ..., daß viele dieser deutschen Soldaten einfache Arbeiter waren wie sie selbst".

Aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit konnten die Soldaten mit Schonung rechnen - so Ingrid Strobl. Die Partisanen "wählten bei Anschlägen auf Einzelpersonen ihre Opfer sehr gezielt aus. Ihre Attentate galten Offizieren des SD, der Gestapo, der SS, Kollaborateuren und Verrätern."

Während der Widerstand in Westeuropa gewußt habe, daß der deutsche Soldat in einem Krieg gewesen sein soll, der nicht seiner war, sondern "Hitlers Krieg", und dabei fürchterlich Schiß hatte, sei es für die Partisan/inn/en in Osteuropa und der Sowjetunion anders gewesen. "Sie standen einer Armee gegenüber, die das Land zerstörte, die Menschen ermordete, ganze Dörfer dem Erdboden gleichmachte" - schreibt sie und behauptet trotzdem im folgenden Satz weiter: "Der einfache Soldat war in der Regel zwar nicht beteiligt an der Durchführung der 'Endlösung', der systematischen Ausrottung der jüdischen Bevölkerung, aber er garantierte sie durch seine Anwesenheit."

Eine Armee zerstörte und ermordete, der Soldat war bloß anwesend. Daß diese Soldaten bei ihrer "Anwesenheit" mit irgend etwas beschäftigt waren, weiß auch Ingrid Strobl. Was sie nun aber genau machten, interessiert sie nicht. Sie hat ein anderes Problem:"Die Frauen und Männer, deren Eltern, Kinder, Geschwister in Treblinka und Auschwitz in den Krematorien verbrannt worden waren oder sich die Gruben selber ausheben mußten, in die sie die Maschinengewehrsalven der Mörder schleuderten, sie konnten keine Rücksicht darauf nehmen, ob ein Angehöriger der deutschen Armee, die den Ablauf der Mordmaschine deckte, vielleicht nicht damit einverstanden war, daß er in diesem fremden Land im Schneesturm fror und auf Menschen schießen mußte, die auf der anderen Seite des Schützengrabens vielleicht genauso zitterten vor Angst wie er selbst."

Nicht die geschlossene Vernichtungsformation aller Deutschen, sondern die Leidensgeschichte der Partisanen soll der Grund gewesen sein, daß sie in den Gefreiten der Wehrmacht nicht den "einfachen Arbeiter, wie sie selbst" sehen konnten. Ingrid Strobls Versuch, den Gegensatz zwischen Tätern und Opfern nachträglich aufzuheben, kann nicht gelingen.


"Eine große Gefahr für die Befriedung der Gebiete bildet das Auftreten von Zigeunerbanden, deren Angehörige sich bettelnd im Lande herumtreiben und den Partisanen weitgehend Zubringerdienste leisten. Würde nur ein Teil der verdächtigen und der Partisanenbegünstigung überführten Zigeuner bestraft, so würde der verbleibende Teil der deutschen Wehrmacht nur noch feindlicher gegenüberstehen und sich noch mehr als bisher den Partisanen zur Verfügung stellen. Es ist deshalb notwendig, derartige Banden rücksichtslos auszurotten." 

(Geheim-Bericht des Heeresfeldpolizeichefs vom 31.7.1942)

 

Wenn die Wehrmacht nicht mehr die Mordmaschine selbst ist, sondern deren "Ablauf deckte", dann ist der deutsche Soldat weit, weit weg vom Verbrechen und "friert", ist "nicht einverstanden", "muß auf andere schießen". Dann ist es auch nicht mehr weit zu den Landseranekdoten und -geschichten vom Weltkrieg anno dunnemal, am Küchen- und Stammtisch.

Ingrid Strobl hätte sich besser gefragt, ob es vielleicht an ihren Vorfahren lag, warum der Widerstand keinen Unterschied machte. Es ist weder ein Beispiel aus dem Westen noch aus dem Osten bekannt, daß irgendein größerer Verband der Wehrmacht übergelaufen wäre und sich gegen die eigene Armee gestellt hätte. Das legt eher die Schlußfolgerung nahe: Die Differenzierung zwischen Gefreitem und Offizier, zwischen Partei- und Wehrmachtssoldat - wenn sie denn wirklich so gemacht wurde - war in jedem Land falsch.

Daß die "einfachen Soldaten" ihren tatkräftigen Beitrag zum antisemitischen Volkskrieg leisteten, will sie nicht wahrhaben. Und da das Buch über jüdische Partisaninnen sich an deutsche linke Leser richtet, scheint es ihr wichtig zu erklären, warum die PartisanInnen von "den Deutschen" sprachen, wenn sie die Deutschen bekämpften."Eine historische Arbeit, die über den bewaffneten Widerstand in den besetzten Ländern Europas berichtet, muß sich in einem ständig wiederholen: diese Frauen und Männer kämpften gegen `die Deutschen`." Gegen wen sonst?

"Ich mußte unsere Soldaten darauf hinweisen, daß es sinnlos war, auf die Klassensolidarität der deutschen Arbeiter, auf eventuelle Gewissensregungen bei Hitlers Soldaten zu rechnen, daß jetzt nicht die Zeit sei, in der angreifenden feindlichen Armee die `guten Deutschen` herauszufinden und dabei unsere Städte und Dörfer der Vernichtung preiszugeben. Ich schrieb: `Töte den Deutschen`!" (Ilja Ehrenburg)

Wer will, kann die Verbrechen der Deutschen auch aus dem "Schwarzbuch" von Wassili Grossmann und Ilja Ehrenburg erfahren. Obwohl - oder weil - das Buch von Arno Lustiger kurz vor den nationalen Feierlichkeiten zur Beendigung der "deutschen Schmach" zum 8. Mai 1995 auf deutsch herausgegeben wurde, und somit als ausgezeichneter Beitrag "Gegen das Vergessen" (was Deutsche nie "wissen" wollten) verstanden werden konnte, wurde es wenig beachtet. Goldhagens richtige Feststellung, daß die Deutschen mit Interesse und freiem Willen, mit Lust und Laune, mit und ohne Skrupel, brutal, eiskalt, penibel oder aber mit vornehmer Geziertheit, aber immer zügig die "Mission der Vernichtung" "erledigten", konnte schon in den Berichten der sowjetischen Opfer, die im Schwarzbuch abgedruckt sind, nachgelesen werden.

Aber auch in den Quellen der Täter. All ihre Mord"aktionen" wurden von den "Einsatzgruppen" in deutscher Gründlichkeit penibel bilanziert (z. B. in den "Ereignismeldungen UdSSR"), um der deutschen Führung eine Bilanz der systematischen Tötung der Juden vorzulegen, anhand derer sie sich ihres "Fortschritts im Kampf gegen das Judentum" vergewissern konnten. Eine endlose Reihe von Vernichtung und Tod, ein grauenvolles Ergebnis der tödlichen Mischung aus Judenhaß, Rassenwahn und bürokratischer Effizienz. Und insoweit auch dokumentiert, der Nachwelt überliefert, von Historikern aufgelistet, kommentiert und verbreitet. Kein Geheimnis, das 1997 zu einem Skandal führen müßte.

Das aktuelle Erstaunen über die Verbrechen der Wehrmacht entspricht ihrer Verleugnung nach 1945.Das Problem, die Verbrechen rechtfertigen zu müssen, war ein nachträgliches und von außen aufgedrängtes. 1945, nach der Niederlage, fanden Millionen von Deutschen die immergleichen Entlastungsformulierungen. Durch Angst, nicht durch Gewissensbisse diktiert. Ralph Giordano nennt dieses nationale Phänomen, das sich bis in die heutige Zeit erhalten hat, "kollektive Affekte". Sie "sind der unverfälschte Ausdruck eines Verlustes an humaner Orientierung, wie ihn in solch einem inflationären Ausmaß kein anderes Volk je erlitten hat."(S.34)


HEIMATFRONT: "Europa arbeitet in Deutschland"
(Fritz Sauckel, "Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz")2)

An den Kriegsfronten, in den besetzten Gebieten, wurde gemordet, geplündert und Männer, Frauen, Kinder verschleppt. Die Beute - Arbeitskräfte, Rohstoffe und Lebensmittel - wurde ins "Reich" verfrachtet, um die deutsche Bevölkerung zu versorgen und die Kriegswirtschaft in Gang zu halten. An der Heimatfront wurden Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge und ZivilarbeiterInnen gezwungen für den deutschen Krieg zu arbeiten - "Arbeitseinsatz", so nannten es die Nazis.

Kriegs- und Heimatfront waren keine getrennten Welten im Alltag der deutschen Bevölkerung, sondern verzahnt zu einer Kriegs- und Vernichtungsgesellschaft. Erich Koch 3), Reichskommissar der Ukraine, benennt voll Stolz dieses brutale Zusammenspiel: "Unsere Soldaten haben ihr Blut in diesem Lande (Ukraine) nicht vergossen irgendwelcher Menschheitsbeglückungsideen willen, sondern um die hier lagernden Reichtümer für Front und Heimat und damit für ein neues Europa nutzbar zu machen. Die vom Führer in diesem Lande eingesetzte zivile Verwaltung kennt nur ein großes Ziel: dem Frontheer zu beschaffen, was es braucht und der Heimat die zusätzlichen Mengen an Nahrungsmitteln, Rohstoffen und an Arbeitskräften zur Verfügung zu stellen, auf die das deutsche Volk ein Anrecht hat und die für die Erringung des Endsieges notwendig sind. Mit dieser Zielsetzung ist im vergangenen Jahr in der Ukraine gearbeitet worden. ... In diesen Tagen rollt der viertausendste Lebensmittelzug über die Grenzen des Reiches, und fast 710 000 Arbeiter wurden in der Ukraine freigemacht, um in der deutschen Rüstungsindustrie und Landwirtschaft die für den Wehrdienst notwendigen Arbeitskräfte zu ersetzen." (Deutsche Ukraine-Zeitung, 5. Jan. 1943, Nr. 3, Aufruf: "An alle Deutschen in der Ukraine")
Aus der Sowjetunion wurden insgesamt 2,8 Millionen ArbeiterInnen verschleppt; 1,7 Millionen PolInnen wurden in die deutschen Kriegswirtschaft deportiert; mehr als die Hälfte dieser sog. "Fremdvölkischen" waren junge Frauen. Die Liste der aus ganz Europa nach Deutschland verfrachteten Arbeiter läßt sich fortsetzen: 1,3 Millionen Franzosen, 270.000 Niederländer und 590.000 Italiener usw. Fast acht Millionen "Fremdarbeiter" lebten im August 1944 im deutschen Reich, 1,9 Millionen Kriegsgefangene und 5,7 Millionen zivile Arbeitskräfte. Ungezählt bleiben diejenigen, die krank und verstümmelt - "arbeitseinsatzunfähig" - zurücktransportiert worden waren; und in dieser Statistik verschwinden auch diejenigen, die ihre "Rückkehr in die Heimat nicht mehr erlebt haben: 'Abgang durch Tod' - so hieß das in der Aktensprache der NS-Bürokratie." (Christoph Schminck-Gustavus)

Ohne ZwangsarbeiterInnen wäre die deutsche Kriegswirtschaft zusammengebrochen: fast die Hälfte der Beschäftigten in der Landwirtschaft waren AusländerInnen, ihr Anteil in der Industrie und Bauwirtschaft lag bei 30%, in den Rüstungsbetrieben war die Hälfte der Belegschaft ZwangsarbeiterInnen. Deutsche und ZwangsarbeiterInnen arbeiteten auf Bauernhöfen, in den Bergwerken und Fabriken über Jahre zusammen. Genauer gesagt: Die Deutschen waren zu Herren und Vorarbeitern über ein Heer von "Hilfsvölkern" aufgestiegen. "Ausnahmslos jeder, der als Jugendlicher oder Erwachsener den Krieg innerhalb Deutschlands erlebte, hatte in irgendeiner Form mit den Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen zu tun." (Ulrich Herbert, 1985)
Am Arbeitsplatz, auf den Straßen der Innenstadt und in den Wohnvierteln, bei Aufräumungsarbeiten nach Bombenangriffen oder beim Bau von Bunkern, überall waren sie anzutreffen; Elendszüge von Gefangenen auf den Straßen waren ein gewohntes Bild in Stadt und Land. Deutschland war mit einem Lagersystem überzogen: in einer Stadt wie Frankfurt gab es ca. 217 AusländerInnenlager innerhalb des Stadtgebiets, in Essen 300, in Mannheim 142, insgesamt waren es im "Reich" ca. 30.000. Auch auf dem Land befanden sich die Lager in unmittelbarer Nachbarschaft. ZwangsarbeiterInnen waren in Gasthöfen, Tanzsälen, Schulen oder Turnhallen untergebracht.

Ungefähr 700 000 "fremdvölkische" Haus- und Dienstmädchen wohnten bei deutschen Familien; die jungen Mädchen im Alter von 12-18 Jahre mußten schwere körperliche Hausarbeit verrichten und betreuten etwa 1,5 Millionen deutsche Kinder. Die deutsche Mutter und Hausfrau konnte sie auf Bezugsschein beim Arbeitsamt bestellen, oder der Ehemann schickte die Beute direkt von der Ostfront. (vgl. Annekatrein Mendel)
ZwangsarbeiterInnen gehörten für die Deutschen zum Kriegsalltag wie Lebensmittelkarten und Bombennächte - allerdings war es ihnen verboten zusammen mit Deutschen in die Luftschutzkeller zu flüchten. Selbst in der - nach dem Kriege volksgemeinschaftlich erinnerten - Not, Angst und dem Chaos wurde die deutsche Ordnung aufrechterhalten: AusländerInnen blieben draußen vor der Tür, dem Bombenhagel schutzlos ausgeliefert. Nach den Luftangriffen jedoch begegnete man ihnen wieder, Kolonnen von Zwangsarbeitern "enttrümmerten" die Städte.
 

„Die Normalität selbst wurde immer abnormaler“ (Christopher Browning)

Ohne die deutsche Bevölkerung hätte der "Arbeitseinsatz" nicht funktioniert. Im Gegensatz zu den besetzten Gebieten, wo die deutschen Exekutivkräfte rücksichtslos gegen eine feindliche Bevölkerung vorgehen konnten, war das Regime im "Reich" auf seine Bevölkerung angewiesen: Die Deutschen mußten die rassistischen Maßnahmen akzeptieren und mitwirken - auch diesmal konnten sie sich auf ihr Volk verlassen: "Um die 'Polenverordnungen' durchzusetzen, kam es eben nicht nur auf die SS-, Gestapo-, und Arbeitseinsatz-Apparate an, sondern ebenso auf die einfachen 'Volksgenossen', die durch ihr Verhalten tätige Hilfsfunktionen für die NS-Bürokratie übernahmen; ... nötig war ... der Saalwächter, der bei 'volksdeutschen' Tanzvergnügungen den Menschen mit dem 'P' zurückwies, der Billetverkäufer, der ihm keine Einlaßkarte für eine Theateraufführung verkaufte, nötig war der Bademeister, der Gastwirt, der Friseur und der Parkwächter, der die Polen zurückwies, der Pfarrer, der den Ausschluß seiner polnischen Glaubensbrüder aus dem Gottesdienst hinnahm, und der Friedhofsverwalter und Totengräber, der ihm die letzte Ruhestätte unter deutschen 'Volksgenossen' verweigerte." (Christoph Schminck-Gustavus)
Das "Experiment Poleneinsatz" war also auch an der Heimatfront erfolgreich. Das System der Zwangsarbeit wurde schnell und reibungslos mit den "Polenerlassen" vom März 1940 in die deutsche Gesellschaft integriert. Die ZivilarbeiterInnen waren in Barackenlagern untergebracht, mußten ständig eine Arbeitskarte bei sich tragen und bei sog. "Arbeitsunlust" wurden sie drakonisch bestraft: Einweisung in ein Arbeitserziehungslager oder Konzentrationslager. Damit der Ausschluß von allen öffentlichen Einrichtungen auch funktionierte, mußten sie das "P"-Zeichen sichtbar an der Kleidung tragen - der lila Stoff mit dem aufgedruckten "P", machte jedem Deutschen schon von weitem klar: das ist ein Pole.
Die 'Blutreinheit des deutschen Volkes' und die deutsche Mannesehre lag den Nazis am Herzen: bei intimen Beziehungen mit deutschen Frauen wurden die polnischen Männer öffentlich aufgehängt, die Frauen mußten z. B. mit geschorenem Kopf und einem Sack bekleidet bei der Hinrichtung zusehen, anschließend kamen sie ins Gefängnis oder Konzentrationslager. Neben dem sog. "GV-Erlaß" (Geschlechtsverkehr) begegnete man den "blutlichen Gefahren" mit der Vorschrift, daß mindestens die Hälfte der polnischen Zivilarbeitskräfte Frauen sein sollten. 4) Am Galgen hängende AusländerInnen - ein Bild, daß ab 1940 auch in den Städten und Dörfern im "Reich" zu sehen war.

Und mit jedem Überfall der Wehrmacht auf ein europäisches Land, wurden mehr und mehr AusländerInnen in den Alltag der deutschen Bevölkerung deportiert.
Damit stellte sich für NS-Bürokratie, Verwaltung und Unternehmen die Aufgabe, sich die Arbeit eines Heeres von AusländerInnen anzueignen, die "sicherheitspolizeilichen" Probleme zu bewältigen und immer die privilegierte Stellung des Herrenvolkes zu sichern. Das Ergebnis war eine Fülle von Verordnungen und Erlassen, die das Leben und Sterben der ZwangsarbeiterInnen verregelte: etabliert wurde eine komplizierte rassistische Hierarchie, die Unterkunft, Lohn, Verpflegung und "Behandlung" für die verschiedenen Ausländergruppen vorschrieb. In der Rangfolge oben befanden sich die Arbeiter aus dem faschistischen Italien, danach rangierten die "germanischen" Holländer und die französischen "Westarbeiter", ganz unten die PolInnen und ab 1942 die sowjetischen ZivilarbeiterInnen und Kriegsgefangenen. Es herrschte eine Mischung aus Regelungswut, Sadismus und Willkür. So kreierten zum Beispiel Beamte des Reichsernährungsministeriums das "Russenbrot", es sollte sich aus 50% Roggenschrot, 20% Zuckerrübenschnitzel, 20% Zellmehl und 10% Strohmehl oder Laub" (Johann Woydt) zusammensetzen. In den Lagerküchen gab es entsprechend der rassistischen Hierarchie eine "Rangordnung der Suppenkessel" (Christoph Schminck-Gustavus) - und an dem Wenigen bereicherte sich noch das deutsche Lager- und Wachpersonal.
Und über all diesen Ausländergruppen stand die deutsche Arbeiterschaft. Ihre soziale Stellung hatte sich durch die "Fremdarbeit" erheblich verändert: schwere und schmutzige Arbeiten machten die AusländerInnen, höherwertige und besser bezahlte Arbeit war den Deutschen vorbehalten. Ausländer unten - Deutsche oben: Die rassistisch strukturierte Zweiklassengesellschaft ermöglichte den deutschen Arbeitern den sozialen Aufstieg zum Vorarbeiter und Meister über die "Arbeitsvölker".
Aber auch die Zahl der Deutschen, die dem Kontroll- und Repressionsapparat angehörten, stieg kontinuierlich an: sie arbeiteten in der Lagerverwaltung, beim Werkschutz, als "Ausländerbeauftragte" (das gab es tatsächlich) oder beim Ausländer-Bespitzelungssystem der Partei. So gehörten z. B. bei Krupp in Essen 4000 Deutsche zum Werkschutz oder zu Eingreiftrupps, immerhin jedes 15. Belegschaftsmitglied. Die mit Stahlhelmen, Knüppeln und Waffen ausgerüsteten Werkschutzleute waren befugt, Fremdarbeiter zu "züchtigen", eine Aufgabe, die sie mit Eifer erfüllten. Das betriebseigene Bestrafungsregime hatte für die Werksleitungen den Vorteil, daß der Geprügelte wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte (wenn man ihn nicht totgeprügelt hatte) und nicht der Gestapo übergeben werden mußte, die ihn dann für längere Zeit in einem "Arbeitserziehungslager" inhaftierte.

Doch ordentlich, sauber und gemütlich sollte es im Terror zugehen: "In der gleichen Zeit, in der in Bremen-Farge eine nie mehr genau zu ermittelnde Zahl von 'Arbeitserziehungs-Häftlingen' zu Tode gebracht worden ist, hat in Bremen - öffentlich in Zeitungsberichten angekündigt - auch ein Wettbewerb unter dem Motto 'Schönere Lager' stattgefunden." (Oktober 1943)(Christoph Schminck-Gustavus)
Auch heute, wenn der Kampfruf ertönt: "Unser Dorf muß schöner werden", dann müssen als erstes die Asylbewerberheime verschwinden.
 

"Modell Zwangsarbeit"

Es ist eine simple Erkenntnis, daß am Ende eines Krieges die Menschen, die marschierten, töteten, die sich an Tod und Zerstörungen gewöhnt haben, nicht mehr dieselben sind, und diese Gewalterfahrung die Gesellschaft über die Zeit des Krieges hinaus prägt.
Doch nicht nur die deutschen Soldaten standen im Dienste der NS-Vernichtungspolitik, auch die Bevölkerung in Deutschland war in den Alltag der Verbrechen integriert: als Nutznießer des "Arbeitseinsatzes" und Zuchtmeister der ZwangsarbeiterInnen.

Erstaunlich ist, daß antirassistischen Gruppen auf alle möglichen Theorien zurückgreifen, insbesondere die angelsächsischen und französischen Rassismus-Diskussion wird bemüht, aber die deutsche Geschichte der nationalsozialistischen Zwangsarbeit - die Deportation und der "Arbeitseinsatz" von 8-12 Millionen "Fremdarbeitern" - spielt keine Rolle.
Die jeweils konkrete historische Erfahrung mit "Fremden" bestimmt das Verhalten des Täterkollektivs. Europäischer Rassismus ist ein zu grobes Raster, abgeleitet aus den allgemeinen Bewegungsgesetzen der bürgerlichen Gesellschaft - es versagt, die Besonderheit des jeweiligen Landes zu begreifen. Deutschland hat keine Kolonialgeschichte, aber es ist gerade 50 Jahre her, daß Arbeit und Vernichtung die Erfahrung des deutschen Kollektivs mit AusländerInnen prägte. Fremdarbeiter und Herrenvolk und ein Staat, der dieses völkische Prinzip durchsetzt, formen das Muster des bundesrepublikanischen Rassismus, der Ausländergesetze und der Asylpolitik. Das "Modell Zwangsarbeit" ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen präsent. Rassismus und das Verhältnis zu "GastarbeiterInnen" und Flüchtlingen in Deutschland erfährt nicht nur durch den Begriff "Fremdarbeiter" seine Kontinuität, es ist geprägt durch die gewalttätige Geschichte. Und da das Thema Zwangsarbeit nie Gegenstand der "Vergangenheitsbewältigung" war, verrät die Sprache auch die Kontinuität: "Man nannte sie 'Ostarbeiter', sehr viel seltener 'Fremdarbeiter', aber niemals 'Gastarbeiter'. Das Wort 'Gastarbeiter' ist eine Wortschöpfung der Wirtschaftswunderjahre". (Zitat bei Annekatrein Mendel) Nicht nur im Bewußtsein dieses Zeitzeugen gibt es keine Zäsur.
Will man von den linken Seminarübungen der Rassismusdefinitionen und Begriffsbestimmungen wegkommen - um nicht in diesem Land auch noch seinen (unbewußten?) Beitrag zur allgemeinen (generationsübergreifenden) Amnesie zu leisten - , muß man die kollektiven Erfahrungen benennen, denn sie werden reaktiviert.

In den Interviews und Gesprächen die Ulrich Herbert und andere Autoren mit Deutschen über die Nazizeit und Zwangsarbeiter führten, werden die ZwangsarbeiterInnen erinnert als die vorausgesetzte graue Masse des Kriegs- und Betriebsalltags. Nach wie vor werden sie nach dem Nazi-Sprachbrauch eingeteilt, differenziert nach 'Völkerstämmen': Ukrainer, "schlitzäugige" Mongolen und Russen.
"In vielen Gesprächen tritt neben die 'graue Masse' in der Erinnerung 'der eine' - 'mein' - Ausländer auf, zu dem man ein persönliches Verhältnis gehabt habe." (Ulrich Herbert, 1983) Selbstverständlich und normal war und ist, daß es Zwangsarbeiter gab, als besonders, nicht zu tolerieren gelten nur die Mißhandlungen durch 150%ge und die Nazis - nicht die Brutalität des Normalen, der Exzeß wird verurteilt. Der Bürgermeister eines Dorfes weiß über die Zwangsarbeiter zu berichten: "...es kam zu keinen Übergriffen, es fanden keine Erschießungen statt". Die Schwelle der Wahrnehmung ist erst bei Mißhandlungen und Morden überschritten.
Die Verschleppung von der Heimat, Hunger, Elend, Demütigung und Arbeit bis zur Erschöpfung sind im Bewußtsein der Zeitzeugen kein Unrecht, nur die persönliche "Mehrleistung an Inhumanität" (Ralph Giordano) - die immer andere begangen haben - werden beklagt. Der ganz normale deutsche Alltag der Zwangsarbeit und die eigene Rolle im Verhältnis zu den AusländerInnen soll entlastet werden durch die brutalen Einzelnen: Steiger, Werkschutzleute, Meister und Betriebsführer. Gerechtfertigt bleibt die Norm der Inhumanität.

Ein mächtiges Stereotyp bevölkert die Nachkriegs-Erinnerung: "Plündernde Polen und raubende Ostarbeiter". Kurz: kriminelle Ausländer.
"Als Nachkriegskind in einem kleinen Dorf Nordhessens bekamen diese Ereignisse des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit eine große Aufladung. In den Erzählungen der Erwachsenen tauchten viele Geschichten über Hunger, Kälte, Angst, Krieg und Furcht, über die Listigkeit und Schlauheit der Bauern beim Umgehen der Anordnungen der Besatzungsmacht, Verhaftungen und Internierungen des Bürgermeisters und Ortsbauernführer auf. Hierein gehören auch die Geschichten der umherziehenden Polen, die nach Kriegsende in den Wäldern lagen und die Gegend unsicher machten. Für uns Kinder waren das 'Räubergeschichten', über deren Ursachen und Zusammenhänge wir nichts wußten. Ich war als Kind im nachhinein empört, daß auch mein Vater, ... seines Fahrrads und der Uhr beraubt wurde. Diese Zeit der 'Stunde Null' wurden im Dorf meiner Kindheit fast zu einem Mythos verwoben, einem Mythos von Not, Nachbarschaft, Nähe und gegenseitiger Hilfe, von Neuanfang und Zukunftsoptimismus." (Ernst Wiederhold)

Am Mythos der Stunde Null wurde kräftig gewoben. Es war die Zeit der Fragen, wann soll man die weißen Laken aus dem Fenster hängen?, wohin mit den eilig abgehängten Hitlerbildern und Parteiabzeichen? (Zu wenige haben sie verschluckt und sind daran erstickt, wie Oskars Vater in der Blechtrommel.) Zeit der Unsicherheit, was kommen wird und der Angst, was diejenigen tun werden, die tatsächlich vom Nationalsozialismus befreit worden waren.

Plünderungen und die Angst vor den befreiten Fremdarbeitern - die Umkehrung der Machtverhältnisse bei Kriegsende - machen 4/5 der U. Herbert vorliegenden Berichte zum Thema Fremdarbeiter aus. Auch in anderen Aufzeichnungen von Erinnerungen sind die Plünderungen und Überfälle meist der einzige Hinweis, daß es Zwangsarbeiter gab. Bundeskanzler Kohl erinnert sich an seine Jugend im Dritten Reich und dessen Zusammenbruch: "Zu allem Unglück sind wir am nächsten Morgen auch noch einer Gruppe polnischer Arbeiter in die Hände gefallen, die uns verprügelt haben." (FAZ vom 17. März 1995)
In den Erinnerungen werden die Einzelheiten detailliert beschrieben: Das geklaute Fahrrad, die Uhr oder die wilden Schlachtungen des Viehs auf der Weide.
"...' Am Tage sah man täglich auf den Straßen Fremdarbeiter mit Schubkarren voller undefinierbarer Gegenstände. Auch als Straßenpassant mußte man vorsichtig sein und nichts Wertvolles sichtbar bei sich tragen. Ich hatte zu dieser Zeit meine Armbanduhr unterm Kleid am Wäscheträger befestigt. Einmal sah ich zu, wie ein Fremdarbeiter einem Fahrradfahrer mit einem Knüppel auf die Hände schlug, ihn vom Fahrrad zerrte und damit verschwand. Die Plünderungen dienten manchem sicher der Selbsterhaltung, doch oft sah es auch nach purer Machterhaltung aus. Wenn man bedenkt, was diesen Menschen alles angetan worden ist, kann man das ja verstehen. Nur traf es manchmal die Verkehrten.'" (Ulrich Herbert, 1983)


Der Beauftragte für den Vierjahresplan
Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz
Merkblatt Nr. 1 für den Ostarbeiter
Arbeiter! Arbeiterinnen!




Die deutsche Wehrmacht hat Euch von dem Terror Stalins und dem der bolschewistischen jüdischen Kommissare befreit. (...)

Deutschland kann und will Euch helfen!
In Deutschland bekommt Ihr Arbeit und Brot, wir sichern Euch eine anständige, gerechte und menschliche Behandlung zu, wenn Ihr sorgfältig und fleißig arbeitet und Euch einwandfrei führt.

Befolgt daher nachstehende Mahnungen:
1. Achtet die Sitten und Gebräuche der Deutschen (...)
3. Seid zufrieden mit dem, was Euch Deutschland bietet. (...)
4. Erfüllt Eure Arbeit willig, seid pünktlich und zuverlässig, dann wird euch das Deutsche Reich als Helfer zur Seite stehen und Euch betreuen. (...)
5. Ihr müßt fleißig sein, wenn Euch der Deutsche nicht verachten soll.
6. Deutschland ist ein Land der Ordnung, der Sauberkeit und des Fleißes. Deshalb fügt Euch in die deutsche Ordnung, haltet Euch sauber und achtet auf Eure Gesundheit.
(...)
8. Die deutsche Frau, das deutsche Mädchen stehen unter dem Schutz der strengen deutschen Fremdengesetzgebung. Sie sind für Euch unantastbar.
(...)

Im einzelnen sind für Euer Arbeitsverhältnis
nachstehende Bestimmungen getroffen:
Die Arbeitszeit ist in Deutschland gesetzlich geregelt. Während des Krieges kann jedoch die Normalarbeitszeit erhöht werden.
Ausgangspunkt für die Festsetzung Eures Lohnes sind die vergleichbaren Lohnsätze deutscher Arbeiter. Da Eure Angehörigen in der Heimat eine Unterstützung bekommen und Ihr freie Verpflegung und Unterkunft habt, erhaltet Ihr einen entsprechend verringerten Lohn. Von diesem sind keinerlei Steuern und Abgaben mehr zu bezahlen.
(...)
Ihr könnt ständig monatlich ein- bis zweimal nach Hause schreiben und ebenso Post aus der Heimat erhalten. Ein Paketverkehr ist zur Zeit aus Transportgründen noch nicht möglich.(...)
Bei entsprechender Bewährung könnt Ihr bei längerer Dauer der Freizeit, z.B. an Sonntagen, gemeinsame Ausgänge, Besichtigungen oder kleinere Ausflüge unter deutscher Leitung durchführen, die Euch Gelegenheit bieten, die Umgebung Eurer Arbeitsstätte kennenzulernen.
(...)
Deutschland ist bemüht, Euer Dasein erträglich zu gestalten. Seid dafür dankbar und bemüht Euch, nach obigen Weisungen zu leben und zu handeln.

Fritz Sauckel,
Gauleiter und Reichsstatthalter


Die "Verständnisvollen" kamen offensichtlich nicht auf die Idee sich mit den ZwangsarbeiterInnen zusammenzutun und die "Richtigen", die Peiniger und Hundertprozentigen zu richten, sich gemeinsam zu rächen. Sie blieben "deutsch", in seinem völkischen Sinn - nach '45 liefen sie dann unter anderem Namen: "Sehr geehrter Herrn Mitläufer", schrieb Walter Maria Guggenheimer, "... Sie selbst hätten die Lage außerordentlich vereinfachen können, wenn Sie die Amerikaner, statt mit völlig unnötigen Blumen, mit einer möglichst kompletten und bedeutungsvoll im Wind baumelnden Kollektion Ihrer jeweiligen Orts-Obernazis empfangen hätten. Aber Sie waren ja, zarte Seele, ausgerechnet in der dafür zur Verfügung stehenden halben Stunde des sinnlosen Mordens müde geworden."

Die alte deutsche Ordnung war zusammengebrochen - als die AusländerInnen noch übersichtlich ihre 'P'- und 'Ost'-Zeichen trugen, alle Russen Iwan hießen, die Russinnen Olga und jeder Franzosen Jean - und die fremde Macht der Alliierten war noch nicht installiert - ZwangsarbeiterInnen wurden Displaced Persons, DP's.

In dieser Zwischen-Zeit ließen sich Deutsche - damit es nicht die "Verkehrten" traf - Entlastungsschreiben, Danksagungen von ZwangsarbeiterInnen ausstellen, die sie gut "behandelt" hatten. "... Diese Zettel waren als Anschläge an die Haustüren der Gastgeber gedacht um die Familien vor Übergriffen und Diebstählen der umherstreifenden Zwangsarbeiter zu schützen. Sie sind die einzigen persönlichen Zeugnisse, die von den russischen Zwangsarbeitern übriggeblieben sind." (Ernst Wiederhold)
Für einen kurzen Augenblick schrumpfte der Herrenmensch auf die individuelle Erbärmlichkeit.

Aus dem Dunkel der Nazizeit treten hell und scharf die "plündernden Polen und Ostarbeiter" ins Gedächtnis der Deutschen. Sie "waren auch die Erfüllung all jener rassistischen Ängste, die ihnen gegenüber seit Beginn des 'Ausländereinsatzes' gehegt worden waren - endlich schien das einzutreten, was man immer vermutet hatte: 'Der Russe' als plündernder und mordender Bandit. Damit konnte man dann die Plünderungen, Kriminalität den AusländerInnen zuschreiben und das schlechte Gewissen über die Behandlung der Ausländer kompensieren, man war sozusagen wieder quitt, die begangenen Untaten glichen sich wieder aus". (Ulrich Herbert: Herrenmensch..., 1986)
Das Nazierbe ist mächtig und man hat wieder Od(b)erwasser: Der Deichbruch hat es an die Oberfläche gespült. Ostdeutsche, denen das Wasser an einigen Stellen bis zum Hals stand, pflegen ihren Polenhaß; Helfer berichteten, daß zahlreiche Eigenheimbesitzer auf den Dächern ihrer abgesoffenen Häuser Wache hielten, „'damit die Polen keine Chance haben, uns wieder auszuplündern'“. (FR vom 2. 9. 1997). Ausgeplündert, ermordet oder verschleppt wurden die Polen von den Deutschen.

Ausländischer Widerstand und deutsche Linke

Zwangsarbeiter sind im kollektiven Gedächtnis der Deutschen und in der Widerstandsforschung eine Lücke - darin unterscheidet sich auch die Linke nicht. Auf der Suche nach historischer Identifikation boten sich die NS-Gegner und die "roten Großväter" an. Dagegen wäre nichts einzuwenden, würde diese Suche nicht dem nationalen Wunsch nach dem 'anderen Deutschland' entsprechen. "Widerstand und Verfolgung in ...", diese Titel füllen seit den 70er Jahren die Regale. Doch aus der Kategorie des "anderen Deutschland", mit der Intention positiver Identitätsbildung, fällt nicht nur die Täterperspektive heraus, auch die von den Nationalsozialisten und deutscher Bevölkerung gefürchtesten innenpolitischen Gegner, die Zwangsarbeiter, fallen durch dieses Raster - es ist eben positiv und deutsch.

Tatsächlich und in der Einschätzung der Nationalsozialisten war der Widerstand der AusländerInnen in der zweiten Kriegshälfte die ernsthafteste innenpolitische Bedrohung. Wie keine andere Gruppe, waren Millionen von entrechteten Zwangsarbeitern dafür prädestiniert, jeden Moment der Schwäche und Krise des Regimes zu nutzen, "gegen ihre Unterdrücker aufzustehen, die Wirtschaft lahmzulegen und in Verbindung mit den alliierten Armeen eine 'innere Front' zu eröffnen." (Ulrich Herbert, 1995)
Und so war die Angst vor einem Aufstand der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen bei den Behörden, Betrieben und in der Bevölkerung weit verbreitet. Gegen die Gefahr einer "inneren Front" traf man überall Vorkehrungen: Militär und Sicherheitspolizei probten die Aufstandsbekämpfung und in Großbetrieben fanden Manöver des Werkschutzes mit Flakeinsatz statt.
Die Verschwörer des 20. Juli konnten die allgegenwärtige Mobilmachung nutzen, ohne Verdacht zu erregen. Unter der Tarnung der Aufstandsbekämpfung der Zwangsarbeiter organisierten sie die Machtübernahme nach einem erfolgreichen Attentat auf Hitler, planten und probten die Entmachtung von Partei und SS für den Staatsstreich. "Das ging so weit, daß in den einzelnen Wehrkreiskommandos Übungen des Ersatzheeres für den Einsatz bei der Machtübernahme der Verschwörer unter dem Vorwand stattfanden, die Bekämpfung von Ausländerunruhen müsse trainiert werden." (Ulrich Herbert, 1995)

Das Regime mußte den größten Teil seines Unterdrückungsapparates aufwenden, um Millionen Zwangsarbeiter zu kontrollieren und ihre Arbeit für Deutschland und den Krieg sicherzustellen. "Zwei Drittel aller Aktivitäten der Gestapobeamten in Deutschland bezogen sich zu dieser Zeit (1943) allein auf 'bummelnde, langsam arbeitende, renitente' Fremdarbeiter". (Ulrich Herbert, 1995)

Doch auch diese Tatsachen verhindern nicht, daß Linke den ausländischen Widerstand in das deutsche Volk eingemeinden. So schreibt "eine autonome antiimperialistin": "trotzdem geht der widerstand weiter, ich habe hier noch eine tabelle aus einem mitteilungsblatt für den kreis des 'führers'. danach sind 1944 von januar bis märz 133 926 personen verhaftet worden. - aus dieser geschichte geht hervor, daß es die behauptete volksgemeinschaft nie gegeben hat, daß die kollektivschuldthese eine schutzbehauptung der bürgerlichen linken ist ...". (Swing Nr. 45) Zum Beleg wird eine Festnahmestatistik der Gestapo angehängt, die - wäre die Wahrnehmung nicht so getrübt - beweist, daß von den 133 926 Verhafteten zwei Drittel AusländerInnen waren.
Die Abwehr der "Kollektivschuldthese" - die allein sie aufgestellt hat - ist seit 1945 der pawlowsche Reflex bürgerlicher und linker Deutscher auf "Nestbeschmutzer", die auf die "Tatschuld, Unterlassungsschuld, Redeschuld und Schweigeschuld" (Jean Améry) der überwältigenden Mehrheit der Deutschen deuten.
Ab Mitte 1942 ergibt sich überall das gleiche Bild: 388 000 Verhaftungen in den ersten neun Monaten des Jahres 1943 - davon 260 000 AusländerInnen wegen "Arbeitsvertragsbruch". Und auch Regionalstudien zeigen (hier Zahlen der Darmstädter Gestapo), "... daß diese der Ausländerepression geltenden Festnahmen zwischen August 1942 und September 1943 im Minimum 70%, im Maximum 94% aller Festnahmen betragen! Die Gestapo war also ihrer Tätigkeit nach in der Hauptsache zu einer Überwachungs- und Unterdrückungsagentur der in Deutschland zwangsarbeitenden Ausländer geworden". (Gerd Steffens)

Das Spektrum der Opposition und des Aufbegehrens der AusländerInnen gegen die Zwangsarbeit reichte von Tausch-, Schwarzhandel und Lebensmitteldiebstahl über Fluchten und die verschiedenen Formen der "Arbeitsbummelei" bis zu organisiertem Widerstand. Zu flüchten, langsam zu arbeiten, wegzubleiben oder zu spät kommen, waren die wirksamsten Mittel der Opposition, solange die Schlagkraft der Gestapo so stark und die deutsche Gesellschaft ein unbesiegbarer Block aus Regime, Militär und loyaler Bevölkerung war. Vom Februar bis Dezember 1943 waren 33 000 ZwangsarbeiterInnen im Monatsdurchschnitt als geflüchtet gemeldet. Die Arbeiter aus den westlichen Ländern konnten über die nahen Grenzen flüchten, oder sie kehrten kurzerhand nicht mehr aus dem Vertragsurlaub zurück und tauchten in ihrem Land unter. Für die "Ostarbeiter" war das nicht möglich, sie flüchteten meist innerhalb Deutschlands in andere Lager auf dem Land, dort konnten sie sich besser mit Nahrungsmitteln versorgen.
"Die deutsche Niederlagen im Osten im Winter 1942/43 waren das Signal für verschiedene Gruppen von sowjetischen Antifaschisten, nunmehr an den Aufbau regelrechter Widerstandsgruppen zu gehen. Die wichtigste von ihnen war die 'Brüderliche Zusammenarbeit der Kriegsgefangenen' - BSW) - die größte und am besten organisierte Widerstandsbewegung von Ausländern, die die Gestapo während des Krieges überhaupt aufgedeckt hat." (Ulrich Herbert, Herrenmensch...,1986)
Diese Untergrundbewegung war von sowjetischen Offizieren gegründet worden und und in kurzer Zeit entstanden Lagerkomitees in ganz Süddeutschland. Ihr Ziel war die Organisierung und Bewaffnung aller Kriegsgefangenen und ausländischen Arbeiter, gewaltsamer Sturz des Regimes, Hilfeleistung für die Rote Armee und die zu erwartenden westlichen Invasionstruppen und Sabotageakte. "Ihre Praxis ... bestand vor allem aus Fluchthilfe und Ausübung von Druck auf deutsche Lagerleiter und Betriebsführer zur Verbesserung der Lebenssituation der Gefangenen und Zivilarbeiter." (Ulrich Herbert, Herrenmensch..., 1986)
Die BSW war zentralistisch organisiert, und nachdem die Sicherheitspolizei ihr im Sommer 1943 auf die Spur gekommen war, zerschlug sie die Lagerkomitees in relativ kurzer Zeit. Alle Verhafteten wurden in Konzentrationslager gebracht und dort ermordet. Die BSW war nicht die einzige Widerstandsorganisation. Dezentral agierende Gruppen, die auf überregionale Verbindungen verzichteten und meist nach Nationalitäten organisiert waren, entstanden ab 1944 in fast allen Städten Deutschlands. Über diese Zusammenschlüsse von überwiegend sowjetischen ZwangsarbeiterInnen ist wenig bekannt - die Berichte der Gestapo nach der Entdeckung solcher Gruppen geben nur ein unvollständiges Bild über den Umfang und die Tätigkeit dieses Widerstands. Von März bis September 1944 berichteten die Behörden von illegalen Organisationen in 38 Städten, mit insgesamt 2 700 Verhafteten. "Die Verbindung zu deutschen Widerstandsgruppen, auf die die Sicherheitsorgane besonders argwöhnisch achteten, war zwar von vielen Gruppen beabsichtigt, ist aber nur in wenigen Fällen nachzuweisen". (Ulrich Herbert, 1995) Allen ausländischen Widerstandsgruppen war es scheißegal was aus Deutschland wird, sie wollten es bekämpfen und zerschlagen; eine Programmatik für ein Deutschland nach dem Krieg gab es nicht.

Die letzten Kriegsmonate wurden für viele ZwangsarbeiterInnen zum Inferno.
Mit den alliierten Luftangriffen auf die deutschen Industriezentren wurden die AusländerInnenlager, die meist in Fabriknähe lagen, zerstört; die Betriebe versorgten die ZwangsarbeiterInnen nicht mehr mit Lebensmitteln. Die Folge war, daß in den zerstörten Städten immer mehr obdachlose, hungernde und als 'geflüchtet' geltenden Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen herumirrten und versuchten zu überleben. "Es entstanden hier Zusammenschlüsse, 'Banden', von Ausländern, die sich durch Diebstähle und Plünderungen Lebensmittel zu besorgen versuchten und sich nun auch gewaltsam und bewaffnet der Verfolgung durch die Sicherheitspolizei erwehrten - bis hin zu regelrechten Feuergefechten mit der Gestapo, wie sie aus Köln überliefert sind." (Ulrich Herbert, Herrenmensch..., 1986) Allein im November 1944 verhaftete die Gestapo in Köln über 80 Personen im Rahmen der Bekämpfung ausländischer "Terrorbanden".

Seit den 80er Jahren wird über Jugendopposition im Dritten Reich berichtet und unter den Linken gehören die "Edelweißpiraten" aus Köln zu einer der bekanntesten Gruppen von Jugendlichen, die gegen den NS-Staat kämpften; 13 von ihnen wurden von der Gestapo gefaßt und im Oktober 1944 hingerichtet. "... daß es sich dabei um eine eher marginale Episode im Kontext monatelanger, verlustreicher und erbittert geführter Kämpfe zwischen bewaffneten sowjetischen Zwangsarbeitern und der Kölner Gestapo handelte, die Ende November in den Ruinen von Köln-Ehrenfeld in regelrechten Feuergefechten mit einer Unzahl von Toten kumulierte, ist hingegen kaum zur Kenntnis genommen worden". (Ulrich Herbert, 1995)

Im Zuge dieser "Bandenbekämpfung" von AusländerInnen wurde die Gewalt der Sicherheitspolizei exzessiv. Ab November 1944 konnten Gestapo-Behörden selbständig Hinrichtungen anordnen und sie erschossen viele AusländerInnen an Ort und Stelle. Und als dann die Front nahte und sich Gestapobeamte aus dem Staube machten, verübten sie noch in letzter Minute Massenexekutionen - sozusagen vorbeugend.
Die schreckliche Situation der Zwangsarbeiter in den letzten Kriegsmonaten war auch der Grund, warum die von der Bevölkerung und den Behörden befürchteten Racheakte an den ehemaligen Peinigern - leider - selten waren. Sich zu beschaffen, was am meisten fehlte war vorrangig: Nahrung, Kleidung und Unterkunft.

Die Spuren sind getilgt, die Kontinuität bleibt.
Nicht, oder nur beiläufig, wird sich der Millionen ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangenen erinnert. Die Auslöschung ihrer Spuren im wahrsten Sinne begann unmittelbar nach Kriegsende. Ausländische Überlebende der deutschen Lager hatten die erste Mahnmale zum Gedenken für die Ermordeten errichtet. Kurze Inschriften, Kreuze oder Gedenksteine, einfache Zeichen des Gedenkens an den Orten ihres Leidens. Die deutsche Bevölkerung und Verwaltung ließen sie verfallen, rissen sie ab, oder ersetzten sie mit Denkmalen für die Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten. (Vgl. Michael Zimmermann)
 
 
Wehrmachtsausstellung: „Erinnern macht frei !“

 
Die Wehrmachtsausstellung will - nach den Erklärungen der Veranstalter - den "Mythos von der sauberen Wehrmacht" zerstören. Doch wer ein Tabu brechen, eine Legende zerstören will, kreist um den Mythos.

Die politische Diskussion, die der Ausstellung Stadt um Stadt folgte, scheint das zu bestätigen. Gemäß der Intention ist es wichtiger, daß das Tabu "berührt", über das Thema geredet wird, als was gesprochen wird. Man findet sich in einer Auseinandersetzung wieder, in der die Geschichte - die ja auch die der Opfer ist -verschwindet und die Dimension der Verbrechen der Deutschen keine Rolle mehr spielt. Alles wird unter dem Aspekt der Täterlegenden betrachtet - die es ja zu demontieren gilt. Und so werden die Morde an der Zivilbevölkerung, die Vernichtung der europäischen Juden zum Material für einen "Diskurs" innerhalb der deutschen Gesellschaft, die über ihre barbarische Geschichte nicht aufgeklärt werden kann, sondern ihre Lossprechung erdiskutieren will.
Zum Beweis, daß die Nachkriegsrezeption des Nationalsozialismus verlogen war, werden die Bilder der Ausstellung vorgelegt. Gleichsam historisch objektiviert kehren die Schnappschüsse, Feldpostbriefe und Erinnerungsstücke aus dem Vernichtungsfeldzug zu uns zurück. Und das erstaunte Publikum läßt sich aufklären, als hätte es nie darüber gehört, gelesen oder sich nicht die Kriegs-Geschichten voller Leidenspathos erzählen lassen. Tapfere Frontkameraden, saubere Wehrmacht, böse Nazis - diese Nachkriegslegende, die keine (nicht-deutschen) Opfer kennt, sondern nur kollektive Entschuldung der Täter, wird nicht zerstört. Im Gegenteil, reproduziert wird die Lüge einer Gesellschaft der nachfolgenden Generationen, die davon nichts gewußt habe - der kalte Blick, der Mangel an Empathie für die Opfer, die Bindung an die Täter scheint unumkehrbar.

Wie bereits bei der Goldhagen-Debatte, wird der Nationalsozialismus zur Folie für eine öffentliche Debatte, die immer banaler und beliebiger wird; es werden nur noch Positionen bezogen: dafür oder dagegen, sich vom eigentlichen Gegenstand entfernt, und die Diskursteilnehmer und die Feuilletons haben gleichzeitig das gute Gefühl sich irgendwie mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen - das allein gilt schon als Indiz, daß sich das Bewußtsein der Gesellschaft über den Nationalsozialismus gewandelt habe. Die Debatte der Wehrmachtsausstellung dreht sich um die Bekenntnis-Fragen in Talkshows, Besprechungen und auf Leserbriefseiten: "Wer ist gegen die Ausstellung und wer findet sie gut ?", "sind die Dokumente wissenschaftlich oder nicht ?", "haben wir daraus gelernt oder haben wir verdrängt?" - ein Tanz auf dem Parkett des Postnazismus, der mit einem Versöhnungsfest endet.

Daß im Land der Täter über 50 Jahre nach dem Vernichtungsfeldzug darüber eine öffentliche Diskussion entstanden ist, verdanken wir zum einen der Ausstellung und zum anderen den Rechten, Alt- und Neonazis, die in Bayern (aber nicht nur dort) gegen die Ausstellung mobil machten. Damit sind seit München die Standpunkte schon codiert: wer für die Ausstellung ist, positioniert sich politisch eher links, ist für Aufklärung und gegen Verdrängung; wer dagegen ist, gehört politisch nach rechts, bedient die Stammtische, die Soldaten- und Vertriebenenverbände.
Die Hegemonie in dieser politischen Debatte haben seit Frankfurt die "Linken" errungen. Auf einer Veranstaltung an der Frankfurter Universität werteten die Macher der Ausstellung und das liberale und linke Publikum die Berichte in den Medien, Zeitungsseiten voll Leserzuschriften, weinende Bundestagsabgeordnete und schluchzende hessische Parlamentarier als Fortschritt: endlich werde über die "unbewältigte" Vergangenheit gesprochen, sich mit der Täterfamilie und -gesellschaft auseinandergesetzt, Söhne und Töchter fühlten sich betroffen, ein Dialog der Generationen habe begonnen.

Der "Banalisierung der geschichtlichen Ereignisse" (Detlev Claussen) folgt die Psycho-Therapeutisierung der Gesellschaft. Der komplexe Zusammenhang zwischen Individualpsychologie und Gesellschaft interessiert das Publikum gar nicht; die Fragen, was sind die prägenden historischen und seelischen Erfahrungen, die den Begriff der Generation begründen, wie lautet die "Bilanz der Nachfolge" (Heinz Bude) werden nicht gestellt. Die Nachkommen der Täter sind durch "Betroffenheit" geadelt und haben Gesprächsdefizite erlitten. Und das verweist auf die Motive dieser unaufhörlichen Rede: Die psychologische Auflösung der Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern und die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Tätern in (selbst-) therapeutischer Absicht. Festzuhalten bleibt, daß es im Nationalsozialismus Täter und Opfer gab, die Kinder der Täter können nicht in die psychologische Rolle der Opfer wechseln. Nachdem es weder die Karriere noch das Familienglück und -erbe kostete, kann man sich heute mit den Tätern beschäftigen, wissenschaftlich, d.h. die noch lebenden Täter der Wehrmachtsverbrechen werden nicht beim Namen genannt, anonymisiert gehen sie in das Kollektiv auf, das es zu therapieren gilt. Unsäglich an dieser Psychologisierung des Nationalsozialismus ist auch das implizierte Heilungskonzept: man brauche nur "erinnern" und "durcharbeiten", dann wird man geheilt, ja befreit.
Die außenpolitische Variante dieses Befreiungschlages trug Präsident Herzog dem tschechischen Parlament vor: "Nicht vergessen oder verdrängen, erinnern macht frei". (SZ, 30.4.97) Für die tschechischen Opfer, die den Nationalsozialismus überlebten, bedeutet diese "Erinnerungsarbeit", daß keine Entschädigungen gezahlt werden.

Einen Einblick, wie Banalisierung, Psychologisierung und Triumphgefühl im linken und liberalen Spektrum fröhliche Urständ feiert, gab die Auftakt-Veranstaltung der Wehrmachtsausstellung an der Frankfurter Universität. Auf dem Podium saßen Hannes Heer, Leiter der Ausstellung, Walter Manoschek (Serbien) und Bernd Boll (6. Armee) und als Diskussionsleiter, Hanno Loewy vom Fritz-Bauer-Institut. Der große Hörsaal vollbesetzt. Nach den Referaten zur Konzeption der Ausstellung melden sich ehemalige Wehrmachtsoldaten. Was diese Täter-Zeitzeugen zu berichten haben, gleicht dem bekannten Schema: entweder sie verteidigen die "saubere Wehrmacht" oder berichten darüber, wie sie das Glück hatten, "keine Verbrechen begehen zu müssen". Keiner war so richtig dabei, allenfalls haben sie was davon gehört. Die auf dem Podium kennen ihre Pappkameraden schon gut: ein Unbelehrbarer wird zurechtgewiesen, diejenigen die sich als vernachlässigte Zeitzeugen anbieten, werden wohlwollend aufgefordert ihre Tagebücher zuzusenden. Der Ton, wie man mit Alten umgeht: nicht mehr ganz ernst zu nehmen, pädagogisch und versöhnend. Im Saal und auf dem Podium triumphiert die 68-Generation: diejenigen, die früher unter ihren Alten gelitten haben, beherrschen nun den Diskurs über die "Vergangenheit". Nicht mehr die ehemaligen Landserverbände, Familien- oder Stammtische, sondern die ehemalige Linke ist in der "Mitte der Gesellschaft angekommen", so Hannes Heer über den symbolträchtigen Ausstellungsort Paulskirche in Frankfurt. Das Thema ist nicht mehr Verbrechen und Wehrmacht, sondern der unerwartete Erfolg der Ausstellung. Eine Verwechslung von Inszenierung und Wirkung.
Dermaßen berauscht von der eigenen Bedeutung zeigt man sich großzügig und verständnisvoll. Bernd Boll sagt in den inzwischen aufgeheiterten Saal: Wenn wir, die Alt-68er, heute hören würden, daß Jimmy Hendrix ein Kinderschänder gewesen sei, so würde auch für uns eine Welt zusammenbrechen; auch wir würden uns gegen die Erkenntnis und das Gefühl wehren, daß unsere „schönste Zeit“ entwertet, daß unsere Idole Verbrecher waren. Damit kam die Veranstaltung zu ihrem obszönen Schluß.

Schon der Vergleich mit den Mördern der Wehrmacht ist widerwärtig. Darüber hinaus bedient der Begriff des "Kinderschänders" die populäre Sensationsgier des verlogenen Mob, der ihn - wie einst der antisemitische "Ritualmord"-Verdacht - in Pogromstimmung bringt.
Sprache ist ein verräterisches Gedächtnis. Die Wissenschaftler der Ausstellung muß man sicher nicht erinnern, daß der letzte Kommandant von Treblinka sein Fotoalbum mit "Schöne Zeiten" überschrieben hatte 5), auch Fotografien von Gehängten, die in der Wehrmachts-Ausstellung gezeigt werden, sind so beschriftet. Die ehemaligen rebellischen Fans von Jimmy Hendrix machen sich gemein mit den Mördern, schulterklopfend und selbstbewußt ebnen sie die Wehrmachtsverbrechen und deren Leugnung in ein allgemein biographisches Gesetz von Verklärung der Jugendzeit. Einmal mehr zeigt sich: wenn die Vertreter der aufgeklärten deutschen Generation in der Mitte der Gesellschaft ankommen wollen, ist dies ihr intellektuelles und moralisches Ende.

Mit der feierlichen Eröffnung der Ausstellung in der Paulskirche (dort ging es bedeutend seriöser zu) wurde die öffentliche Debatte pädagogisch von den Medien begleitet und das inszeniert, was sie bezweckte: Den Beweis, daß das Deutschland von heute und die Deutschen anders sind.
Da Frankfurt nicht in Bayern und "Hessen vorn" liegt, wurde der Wehrmachtsausstellung im Hessen Fernsehen an diesem Abend ein Themenschwerpunkt gewidmet.

Auf einem populistischen Dumpfbacken-Register spielte die Talkshow "Väter, Söhne, Enkel". Ausgewählte VertreterInnen der drei Generationen wurden in die Ausstellung geschickt, dabei gefilmt und abends in der Fernseh-arena befragt. In der Expertenrunde saßen die Frankfurter Politikerin Frau Steinbach, die CSU-Positionen vertritt, SPD-Kultusminister Holzapfel und ein Vertreter der Bundeswehr, nicht fehlen durfte selbstverständlich ein Mitarbeiter des Sigmund-Freud-Instituts.
Da die Standpunkte schon festgezurrt waren, konnte nicht überraschen, daß die ehemaligen Landser zum Teil. listig ihren Krieg verteidigten und ihren "Verlust an humaner Orientierung" (Ralph Giordano) demonstrierten und die rechte Politikerin gegen die Ausstellung wetterte. Interessant war, daß in der Gegen-Positionierung, den Argumenten für die Ausstellung, die Diskussion nach rechts driftete. Diese braune Grundtönung war nicht nur bei der Diskussion zu merken, sondern auch in der ausgesprochenen Toleranz gegenüber Nazi-Gesinnungen. Dem familientherapeutischen Ansatz entsprechend - alles kann und darf ausgesprochen werden - hatten die Nazis ein Forum, in dem u.a. die Belehrung eines Frontmörders unwidersprochen blieben: "Wir waren völkerrechtlich befugt Kriegsgefangene und Zivilisten zu töten, da die Sowjetunion nicht der Genfer Konvention beigetreten war".
Doch die Sorge und Fragen des Moderators galten allein dem Verhältnis der Generationen, und ob dieses sich verschlechtert habe, nachdem sie die Ausstellung gesehen hätten.

Einige Auszüge aus der kollektiven Sprechstunde:

Ein junger Mann aus der Enkelgeneration: "Schafft in meinen Augen gerade diese Ausstellung, das Mißtrauen zwischen den Generationen abzubauen, weil Seiten gezeigt werden aus einem Krieg, der schrecklich war; und es werden zusätzlich zu den Seiten, die bekannt sind, werden neue Seiten gezeigt und dieses hilft, zumindest mir hilft es, meinen Opa z.B. besser zu verstehen, wenn er mir vom Krieg erzählt; es gibt mir z.B. einfach einen anderen Blickwinkel, und gerade das sät nicht Mißtrauen, sondern es schafft Mißtrauen zu beseitigen."

Ein wahrhaft gelungene Familienzusammenführung: Wenn jetzt der Großvater vom Krieg erzählt, dann versteht der Enkel, wie schwer das damals war, als man die russische Bevölkerung massakrierte und verbrannte Erde hinter sich ließ.
Die Bilder der Ausstellung zeigen Täter und die Opfer im Moment ihrer Ermordung; wie auch dieses Beispiel zeigt, identifizierte sich keine/r der Deutschen in den Talkshows und Befragungen mit den Opfern, versetzte sich einfühlend an ihre Stelle, sondern alle Fragen, Gefühle oder Verstehen bezogen sich auf die Täter oder auf sich selbst. Auch mit dem Abstand von über 50 Jahren und zwei Generationen: kein Perspektivwechsel.

Ein anderer:
"Ich glaube nicht, daß sich dadurch das Verhältnis verändert. Ich finde es einfach nur wichtig, daß so was gezeigt wird, gerade der Jugend, die dann ja auch in anderen Ländern konfrontiert wird, und ich seh' das so an anderen Ländern, da wird so was nicht so, da werden die Kriege so heruntergespielt, die sie selber gemacht haben; daß so was gezeigt wird und man dazu steht und es ist passiert und wir wissen es auch, daß man es wenigstens weiß."

Dem jungen Mann stellt sich einerseits das praktischen Problem, daß man beim Jugendaustausch in Polen oder Frankreich mit der deutschen Geschichte konfrontiert wird. Das kann unangenehm sein. Der von Ralph Giordano beschriebene kollektive Affekt Nr. 5: "Die anderen haben auch Verbrechen begangen, nicht nur wir Deutschen", wird hier um die Variante der dritten Generation erweitert: "Aber wir reden wenigstens über unsere Verbrechen." So geht das Spiel doch 2:1 aus.

Kultusminister Holzapfel, oberster hessischer Pädagoge antwortete erregt - doch ganz staatsmännisch - auf den Spruch eines ehemaligen Landsers: "C`est la guerre":
"Und das sage ich jetzt im Hinblick auf die Traditionsbildung, die wir für eine demokratische Armee brauchen ... Was diese Ausstellung nämlich deutlich macht ist, daß das was dort geschehen ist, nicht Kriegführung war, sondern Verbrechen. Und wenn man eine demokratische Armee begründen will, diesen Unterschied deutlich machen muß; daß der Satz falsch ist, daß im Krieg alles erlaubt ist; daß wenn unsere Demokratie sich dazu bekennt, daß sie verteidigungsbereit ist, und wir alle und viele Pazifisten erst in Bosnien schmerzhaft gelernt haben, daß es den Fall wohl gibt, wo man zur Waffe greifen muß, daß es gerade dann wichtig ist, daß auch in dieser äußersten Ausnahmesituation der Verteidigung es ein Minimum an moralischen und ethischen Normen gibt, die nicht in Frage zu stellen sind; und daß die verletzt sind, daß ist nicht der Krieg, daß war der Vernichtungsfeldzug der Faschisten."

Komisch ist die Vorstellung - sie drängt sich unwillkürlich auf - , wie Herr Holzapfel schmerzhaft betroffen in Bosnien die Waffe in die Hand nimmt, um die demokratischen Werte der Bundesrepublik gegen die Nazis zu verteidigen. Ekelhaft ist, daß die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht zur Legitimation eines Bundeswehr"einsatzes" im ehemaligen Jugoslawien herhalten muß.
Sozialdemokratische und grüne Politikerinnen instrumentalisieren den nationalsozialistischen Völkermord für ihr staatstragendes Bekenntnis, daß ihr früherer Pazifismus falsch gewesen sei und winden sich argumentativ zur Forderung hin, "friedenschaffende" deutsche Truppen an die Orte der ehemaligen Verbrechen zu senden.
Auch diese Debatte über den Nationalsozialismus dient der Legitimation im wiedervereinigten Deutschland. Die Verbrechen der Wehrmacht sind geradezu die Weihe für einen neuen Kriegseinsatz.

Der Wiederholungszwang befällt nicht nur die Politiker und "Diskurs"teilnehmer, sondern auch Leute handeln danach, die diese Debatte sicherlich nicht intensiv verfolgt haben: Junge deutsche Soldaten der demokratischen Armee stellen in ihrer Ausbildung für den Bosnien"einsatz" genau die Phantasien der serbischen "Partisanenbekämpfung" auf Video nach, die dem historischen Vorbild Wehrmacht gleichen. Wehe dem Land, daß da "befriedet" wird.

In der deutschen Normalität, die auch über diese Debatte hergestellt wird, steckt das Grauen.
 
 

Cafè Morgenland:
Wehrmachtsausstellung, Goldhagendebatte und andere exhibitionistische Formen des Germanenkults

"Ich werde jeden Menschen nach den Kriterien der gegenwärtigen Realität messen, daran, was er in unseren Verhältnissen war oder gewesen wäre. Um mir über jemand eine Meinung zu bilden, um ihn zu schätzen oder nicht zu schätzen, zu lieben oder nicht zu lieben: letzten Endes wird das alles davon abhängen, wie seine Haltung, seine psychische, physische und moralische Reaktion in diesen düsteren Jahren großer Prüfungen war oder gewesen wäre." (aus dem Tagebuch von Hanna Lèvy-Hass, Überlebende des KZ Bergen-Belsen)

Ein Volk ohne Raum

Sie haben gemordet und massakriert. Sie haben einen ganzen Kontinent in Schutt und Asche gelegt. Sie haben Dörfer und ganze Landstriche dem Erdboden gleich gemacht. Sie haben Jung und Alt, Kinder und Greise, Frauen und Männer, Serben und Russen, Griechen und Franzosen, Polen und Tschechen, Juden, Roma und Sinti und viele andere vernichtet. Ihrer Vernichtungsphantasie war grenzenlos. Sie haben Frauen und Kinder in Scheunen, Schulen oder Kirchen eingesperrt und verbrannt. Sie haben Männer an die Wand gestellt und erschossen. Und dabei haben sie ihre Erinnerungsfotos gemacht. Und Briefe an ihre Liebste zu Hause geschrieben, in der sie mit Stolz über ihre Taten berichteten.
Viele von diesen Taten wurden nach vordefinierten Regeln begangen. In Griechenland z.B. war die Regel so, daß für die Tötung eines Wehrmachtssoldaten durch die Partisanen, 10 Zivilisten des nächstliegenden Ortes als Vergeltung erschossen wurden. Für die Tötung eines Wehrmachtsoffiziers wurde der nächstliegende Ort samt seiner Einwohner dem Erdboden gleich gemacht. Die griechische Partisanen-Armee (ELAS) gehörte zu einer der erfolgreichsten Widerstandseinheiten. Es ist also leicht sich vorzustellen, was an Vergeltungsaktionen im ganzen Land - wie in anderen Länder auch - gelaufen ist.
Ein Beispiel: Von den 26 Dörfern in Zagori (Berggegend in Ipiros) sind nur 6 übrig geblieben. Die Überlebenden in dieser Gegend sprechen nicht von "der Wehrmacht" oder von "der SS". Sie sprechen von "den Deutschen". Unfähig wie sie nun mal sind, die feinen Unterschiede, die hier im Lande zum Ritual erhoben wurden, wahr zu nehmen. Sie weigern sich nämlich zu differenzieren, ob ein Teil ihrer Angehörigen durch die SS und der andere Teil durch die Wehrmacht ermordet wurde.
Und genau diese deutsche Wehrmacht war die entscheidende Voraussetzung und die unabdingbare Bedingung als technisches bzw. militärisches Mittel für die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden. Es bleibt dabei: Ohne Wehrmacht kein Holocaust (und ohne Deutschland keine Wehrmacht).
Alles in allem nennen sie bis heute ihre Taten "Kriegsführung".
Diese "Kriegsführung" hat dafür gesorgt, daß Orte wie Lidice, Kalavrita, Babij Jar, Caiazzo und tausend andere prägender Bestandteil der Geschichte des jeweiligen Volkes wurden. Und je mehr das wiedervereinigte Deutschland heute brüllt, desto mehr werden die Erinnerungen wieder wach. In diesen Orten erfahren in letzter Zeit die jährlichen Trauerfeiern eine steigende Beteiligung, um den Toten zu gedenken und um zum 52sten mal "Nie Wieder" zu bekräftigen. Längst nicht mehr als Ritual, sondern als Ausdruck einer nicht mehr los zu werdenden Bedrohung wie schwarze Wolken am Himmel, die immer mehr und dichter werden.
All das ist seit über 50 Jahren - auch und vor allem - im Land der Täter bekannt. Es entstand zahlreiches Material - Filme, Dokumentationen, Literatur, Fotos, Erzählungen, Aufzeichnungen und Büchern von Überlebenden, Historikerstudien, Veranstaltungen, Diskussionen usw. Eine Frage ist, ob all das etwas gebracht hat, irgendwelche Wirkung gezeigt hat. Nicht aber die Frage, ob die Nachkommen der TäterInnengeneration davon etwas wußte. Denn selbst wenn einige kaum mit diesen Informationen in Berührung gekommen sind, wußten sie aus erster Quelle (von Eltern, Großeltern, Onkeln und Tanten, aber auch von den sorgsam aufgehobenen und aufbewahrten Fotos, Frontbriefe und anderen Dokumenten), was damals abging.
Denn gerade diese Familiendokumente wurden als Fundus, als wesentliches Material, sowohl von Goldhagen als auch für die Wehrmachtsausstellungs-Dokumentation herangezogen.
Wenn es nun also so ist, daß der "plötzliche Schock" über die Massenhaftigkeit und die Qualität der Greueltaten der Großeltern nicht ausschlaggebend für die Begeisterung und den Massenzulauf der Goldhagen-Veranstaltungen und der Wehrmachtsausstellung ist, wenn dadurch weder das Schließen einer historischen Lücke noch eine Antwort auf offene Fragen erzielt wurde, wozu also die ganze Show seitens der Veranstalter und ihrer Fans?
 

Ein Raum mit Volk

Sonntag, dem 12. Mai 1997 früh Morgens am Römer in Frankfurt. Mehrere Reisebusse stehen am Rande vom Römer. Nach dem Kennzeichen zu urteilen, kommen sie aus hessischen Kleinstädten bzw. Dörfern. Die Mitreisenden sind längst ausgestiegen, sie stehen in einer etwa 100 m langen Schlange vor dem Römereingang. Eine so große Schlange wurde zum letzten mal in Frankfurt bei dem Film "Jurassicpark" gesehen (auch dort waren die Bilder schaurig).
Diesmal pilgern sie zu der Wehrmachtsausstellung.
Geduldig warten sie auf den Einlaß. Zwei Roma, ein älterer Herr und ein junges Mädchen betteln entlang der Schlange. Das schlechte Gewissen zahlt sich aus: fast alle spenden etwas. Immerhin, zu etwas ist die Wehrmachtsausstellung doch von Nutzen. Das pilgernde, geduldig wartende Provinzvolk darf endlich rein. Gespielte Andacht kommt mit in die Ausstellungsräume rein. Menschentrauben stehen vor den Fotos mit den Greueltaten Ihrer Vorfahren. Eine ältere Frau kommentiert ihrem Mann gegenüber das gerade ins Visier genommene Foto und den dazugehörenden Text: "Sabac liegt in Serbien? Ich dachte in Polen!"
Ansonsten nehmen sie Rücksicht aufeinander, da die Räume eng sind und viel zu viel Volk vor den Bildern steht. Das übliche Ellenbogenverhalten findet heute kaum statt. Wie gesagt, es läuft mit Andacht. Mit einem Hauch von Religiosität. Eine kleine Ausnahme bildet eine Frau, die laut und deutlich (damit es alle mitkriegen) sich outet, indem sie den Verkäufer am Büchertisch nach Dokumentationsmaterial für die 5. Armee (oder sowas ähnliches) fragt. "Hier sind nur Dokumente von der 6. Armee" betont die Frau "ich interessiere mich aber für die 5. Armee, dort war mein Vater. Ich suche nach Unterlagen über ihn". Nein, sie ist dabei nicht bekümmert, eher stolz. Nicht, weil sie die Taten ihres Vaters billigt, sondern weil sie sich als sehr wichtig dabei vorkommt. Denn nachdem die Medien und die Zeitungen über den Fall einer Frau berichteten, die ihren Vater auf einen Ausstellungsfoto wiederentdeckte, herrscht "Entdeckungseifer". Auch ein Aspekt von der herrschenden Atmosphäre in der Stadt während der Ausstellung.
Die Abende davor und danach, voll mit den üblichen Vergangenheitsbewältigungsritualen: Talk-Shows und Interviews der Initiatoren, der ehemaligen Wehrmachtsangehörigen und der BesucherInnen im Fernsehen. Kommentare und Berichte in den Zeitungen machen die Runde.
Das ganze Interesse gilt einzig und allein den Tätern. Nicht um sie zu bestrafen, daran haben auch die Veranstalter kein Interesse (sie haben die Namen der Täter auf den Fotos abgekürzt oder weggelassen), sondern sie wollen sie verstehen. Die Opfer spielen dabei nur die Rolle der Statisten. Ihre Wertigkeit steht und fällt mit dem Ausmaß der Greueltaten. Eine einfache Erschießung findet kaum Aufmerksamkeit im Vergleich zu einem postierten Genickschuß. Ansonsten sind die Opfer den BesucherInnen scheißegal. Nichtmal die Frage nach den Hinterbliebenen, nach den Überlebenden wird gestellt. Im Gegenteil, die Heldin des Tages war diejenige Frau - wie vorhin erwähnt -, die öffentlich ihre Betroffenheit darüber ausstellte, daß sie ihren Vater in einem der Fotos erkannt hat. Und die Reaktion darauf? Mitleid mit der Tochter eines Exekutors. Obwohl oder weil sie gleichzeitig feststellt, daß ihr Vater "nur" daneben stand und wegschaute (!). Somit rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung und der Diskussion der seelische Zustand einer Tochter, deren Vater - diesmal nachweislich - "daneben stand". Wo daneben? Was ist der Anlaß gewesen, wo stand er daneben, wovon schaute er weg? So verrückt es klingt! Wir sind gezwungen es zu wiederholen, bevor der/die LeserIn selber vergißt! Es handelt sich um eines der unzähligen Massaker der deutschen Wehrmacht. Der Vater hat "weg" von den gerade exekutierten Menschen "geschaut". Diese Wiederholung in diese Irrwitzige Situation um und über die Ausstellung, ist notwendig, weil der eigentliche Grund des Ganzen längst im Strudel der Diskussion über den seelischen Zustand der Nachkommen, so dominierend wurde, daß jegliche Gedanken an den Ermordeten, an die Leiden ihrer Nachfahren (immerhin sie haben ihre Kinder, ihre Eltern, ihre Geschwister durch solche deutsche Väter verloren), verschwindet.
Kann man das als krankhafte oder brutale Eitelkeit bezeichnen? Schwer zu definieren. Eher als therapeutischen Selbstfindungsprozeß, der das Opfer bestimmt/definiert und die passende Therapie verschreibt. Den Rest übernimmt die Krankenkasse (oder das Siegmund-Freud-Institut).
Der öffentlichkeitsscheue Reemtsma erklärt öffentlich in verschiedensten Variationen und Gelegenheiten, worin der Erfolg der Ausstellung liegt:
In der Schock-Wirkung und in seinem aufklärerischen Charakter (Volkspädagogik).
Was meint er damit? Vielleicht hilft es uns, um diese Aussagen zu verstehen, einen Vergleich anzustellen: Ein Exhibitionist kommt auf seine Kosten, hat also Erfolg, nicht indem er sich entblößt, sondern indem er durch die Entblößung, bei der betroffenen Person, zu einem unerwarteten Zeitpunkt, einen Schockeffekt auslöst. Daher ist die übliche Reaktion des Aufschreis folgerichtig. Wie der ganze Aufschrei allerart (für und wieder, stilistisch und methodisch, Verdrehung oder Wahrheit usw.) über Goldhagens Buch oder über diese Ausstellung. Auch der Zeitpunkt gilt als unerwartet: Kaum wurden die Pflichtübungen der 50-jährigen Vergangenheitsbewältigung zelebriert und in heuchlerischen Rede- und Kommentarbeiträgen abgeschlossen, kaum hat die Nation ihre Jungs nach Serbien geschickt, bricht plötzlich über Deutschland Goldhagens Behauptung und kurz danach die Wehrmachtsausstellung ein. Die Veranstalter liefern auch die Erklärung für das massenhafte Interesse: Der Generationen-Abstand (Großeltern-Enkel) ist inzwischen zu groß, daher kann die dritte Generation leichter damit umgehen. Sie belassen es aber nicht bei dieser Erklärung. Sie liefern auch das Ziel der Ausstellung: Aufklärung und Überwindung des Generationenkonfliktes heißt das Zauberwort.
Als ob es je einen nennenswerten (Generationenkonflikt) gegeben hat. Und selbst dann ist er längst auf deutschübliche Weise behoben worden: vor den Flüchtlingsheimen, in antisemitischen Haßtiraden, bei der Vertreibung von Roma-Familien, bei der Verbrennung von Nicht-Deutschen oder bei der Verstärkung der Oder-Deiche und der Grenzbürgerwehr gegen "Scheinasylanten" und "Polaken".
Bei der Erklärung fällt nur auf, daß Herr Reemtsma entgegen seine sonstigen Gewohnheiten, logische Denkmodelle bis zu Ende aufzubauen, mitten in seiner Logik (da wo es gerade spannend wird) abbricht. Denn gerade eine solche Erklärung (Abstand der Generationen) zwingt zu ihrer Weiterführung. Er fragt nicht weiter nach dem Motiv der Enkelgeneration. Er fragt auch nicht nach, warum sie nicht vorher den Opa (als er noch lebte) mit ihren Fragen konfrontiert haben. Nein, diese Fragen werden nicht gestellt. Denn die Antwort darauf würde gezwungenermaßen den Sinn und Zweck der Ausstellung in Frage stellen.
Diese Erklärung besagt nämlich, daß nicht die Taten selber als so verwerflich angesehen werden (auch mit der Gefahr, die eigenen Vorfahren zu verurteilen), sondern daß sie jetzt verurteilt werden können, weil kaum jemand von der Tätergeneration lebt (somit ist die Gefahr eines Familienkonfliktes ausgeschlossen). Eine andere Variante dieser Erklärung wiederum besagt, daß inzwischen der Täter der Opa und nicht der Vater ist. Das Kriterium für das Interesse an den Greueltaten verkommt zu einer Benimm-Dich-Regel und zu einem Familienproblem, das entweder reif für eine Lösung ist (Täter biologisch abgebaut) oder noch ein paar Jahre liegen bleiben muß.
Nach dieser Logik rechnen wir nach ... und bekommen Gänsehaut: Erst um das Jahr 2050 werden die aktuell flächendeckend im Lande laufende Pogrome verarbeitungsfähig sein! Vorher läuft nichts! Deutsche Sitten, deutsche Logik.
 

Ein Raum für Pogrome

Gleichzeitig wird durch diesen Aufklärungsversuch deutlich, daß die Veranstalter mit der Absicht aufgetreten sind, die Täter zu brandmarken, aber die Nachkommen zu streicheln. Dieser interessante Aspekt taucht sowohl bei Goldhagen als auch bei den WA-Veranstaltern auf.
Eine begründete Hoffnung, daß dieses Unternehmen irgend etwas Positives bringen wird, haben wir nicht. Denn die Präsentation von "nackten Tatsachen" haben bisher eher das Gegenteil bewirkt. Bleiben wir aber auf dieser Ebene.
Wenn wir die geäußerten Absichten positiv interpretieren, dann soll damit ein Beitrag geleistet werden, um Auschwitz nie wieder möglich zu machen. Das bedeutet aber, daß diese Gefahr besteht. Sonst hat eine Mahnung keinen Stellenwert, sie ist überflüssig. Dann drängt sich aber die Frage auf, die weder die Ausstellung, noch die Goldhagen-Diskussion stellt: Von wem geht diese Gefahr aus? Ein Blick in die Statistik der Pogrome und Angriffe seit der Wiedervereinigung und die enorm angestiegene Vorliebe von jungem deutschem Publikum für Schlagermusik und Heimatlieder genügt, um genau zu sehen, daß gerade diejenigen, die aufgeklärt werden sollen, längst durch ihre Vorfahren aufgeklärt wurden und sich entsprechend verhalten.
Sie haben alles verstanden. Und sie wissen Bescheid. Sie haben nämlich besser als ihre Aufklärer verstanden, daß "zwischen 6 Millionen Juden und 5 Millionen VW-Käfern, zwischen Wirtschaftswunder und Endlösung ein Zusammenhang besteht" (W. Pohrt).
Und sobald die Deutschen etwas verstanden haben, läuft der Prozeß stets in die gleiche Richtung: Nachmachen, Wiederholen, Kontinuität bewahren, im besten Fall wegsehen.
Wie damals: "Auch wurde ich den Anblick der Deutschen auf einem kleinen Bahnsteig nicht los, wo man aus dem Viehwaggon unseres Deportationszuges die Leichen ausgeladen und aufgeschichtet hatte, ohne daß ich auch nur in einem der steinernen Gesichter den Ausdruck des Abscheus hätte lesen können" (Jean Amèry).
Jüngstes Beispiel: An der Goldhagen-Diskussion in Frankfurt nahmen über Tausend Leute teil, also massenhaft, nicht um ihn zu beschimpfen, sondern um ihm beiseite zu stehen. Folgt daraus jetzt eine positive Bilanz? Mitnichten. Denn dies würde bedeuten, daß daraus Konsequenzen für das eigene Verhalten gezogen werden. Etwa drei Tage später hat die Polizei im Morgengrauen eine Roma-Siedlung überfallen (laut Erklärung der Roma-Union, in Nazi-Manier) und die Familien verhaftet, nach Rumänien gleich direkt per Flug abgeschoben und den Rest nach Nordrhein-Westfalen gebracht, um sie von dort aus abzuschieben. Die Roma-Union hatte zu einer Protestkundgebung eingeladen. Die FR druckte tags zuvor ausnahmsweise Teile der Erklärung bzw. des Kundgebungsaufrufes ab. Die FR hat - insbesondere bei dem liberalen Publikum - die meisten LeserInnen. Also, alle wußten davon, jedeR konnte entscheiden, ob er/sie sich solidarisch mit den Verfolgten erklärt oder schweigend die Pogromstimmung gegen Roma hinnimmt.
Und die Protestkundgebung? Ach so, daran haben sich ca. 15 Leute beteiligt.
Scheiß liberales Publikum? Kann man/frau nichts anderes erwarten? Es lebe die linksradikale Szene? Mitnichten:
Noch während der Wehrmachtsausstellung organisierten MigrantInnen- und andere Gruppen aus den antideutschen selbstorganisierten Zusammenhängen eine Protestdemonstration nach Babenhausen (in Hessen) wg. eines Brandanschlags auf das Haus des "letzten dort lebenden Juden".
Aus den Frankfurter LR-Zusammenhängen kamen gerade ein paar Leute. Der Rest war - seit über zwei Jahren mit urdeutschen Spezialitäten beschäftigt: Ab wann und unter welcher Konstellation "ihre" Asylbewerberin von autonomen Frauen-Wohngemeinschaften zusammengeschlagen werden dürften oder ab wann die Polizei geholt werden darf, um sie aus der Wohnung rauszuschmeißen. All das unter dem Code der "kulturellen Mißverständnissen" (Siehe Swing-Plaudereien, August '97).
Diese Fakten, wenn sie ignoriert werden, verfälschen bis zur Unkenntlichkeit die Vorgänge um und über die Wehrmachtsausstellung und die Goldhagendebatte.
Wir könnten jetzt abschließen mit der Schlußfolgerung (wie meistens), daß diese Vorgänge, dieses kollektive Verhalten den katastrophalen Zustand dieser Gesellschaft zeigt etc.
Es bringt aber nichts. Es hat sozusagen keinen Sinn mehr. Und die Zeit drängt. Wenn es stimmt, daß die Massenhaftigkeit von neuen Verbrechen nicht an dem Willen der deutschen Bevölkerung scheitern wird, sondern an den Sachzwängen der sie Regierenden (aus welchen Gründen auch immer), dann ist es höchste Zeit. Die Schröders, die Lafontains, die Voscheraus und andere Volksgenossen machen bereits Pogromstimmung gegen "kriminelle Ausländer". Wie ein Lauffeuer wetteifern zur Zeit deutsche Politiker um die völkische Gunst. Die einen wollen "Ausländer" schon im Kindesalter abschieben, die anderen die Strafmündigkeit auf 12 statt wie bisher auf 14 Jahre herabsetzen. Selbst wenn dieser ganze faschistoide Dreck nicht 1:1 in Gesetzen mündet, wird er seine Wirkung nicht verfehlen. Der Mob weiß Bescheid. Er macht sich schon an die Arbeit.
Nur eins bleibt uns übrig: Nachzudenken was zu tun ist, welche Konstellationen auftreten werden und was wir selber tun müssen. Diesmal dürfen nichts und niemand unerwartet kommen. Wir müssen uns darauf mit allen Konsequenzen einstellen. Das Ende jeglicher Illusion, jeglicher Hoffnung auf Veränderung in diesem Land und mit diesen Leuten muß zu bestimmender Praxis werden und zu entsprechendem Verhalten führen.
Sonst hat auch das hier Geschriebene keinen Sinn.

Cafè Morgenland, 05.09.1997

 

Projekt ABBRECHEN/Nürnberg:

Von der Freiheit in der Tätergesellschaft

Je größer der Rummel um die "Wehrmachtsausstellung", desto mehr läßt ihr leitender Historiker die wissenschaftlichen Verklausulierungen seines Anliegens fallen - deutlich nachzulesen in dem jw-interview vom 12/13.April 97. An Hand von Interesse und Perspektive des Historikers H. Heer und dem Diskurs zur Ausstellung selbst (auch in der jw!) kann mensch sich die Verhältnisse im Land der TäterInnen vor Augen führen.

Bereits vor ca zehn Monaten hat H. Heer in Regensburg auf einer Begleitveranstaltung zur Ausstellung ("Killing Fields") als Schlußworte ins Mikrophon gerufen: "Wahrheit macht frei!"
Es käme für uns - "wir", das "deutsche Volk" - darauf an, der "Wahrheit" ins Gesicht zu schauen, denn nur so könne der "Frieden zwischen den Generationen" wiederhergestellt werden! Beim nächsten Halt der Ausstellung in Nürnberg, die gleiche Leier!
Im oben genannten jw-Gespräch schmückt er sein 68er-deutsches Anliegen weiter aus: zwar lehne er es als "seriöser Historiker" ab, Kontinuitätslinien zur neuen Bundeswehr zu ziehen, aber der bisher nicht stattgefundene "Generationen-Dialog" wäre mit der Auseinandersetzung um "das schlimmste Kapitel unserer neueren Geschichte" vielleicht doch noch möglich, ebenso "die Tabus zu brechen, die Traumata anzusprechen." Und: Genauso wie die Auseinandersetzung mit dem Holocaust Respekt im Ausland verschafft hätte, gäbe es in Sachen Verbrechen der Wehrmacht auch Anerkennung bei den Nachbarn zu verdienen, "für die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes", versteht sich! Allerdings gilt es jedes Wort sehr vorsichtig abzuwägen, weil die Wunden der Täter so tief seien, auch "viel Leid, Todesängste, Verwundung, Kameradentod" und andere Scheußlichkeiten erlebt worden seien.
Die völkische Rede des seriösen Historikers spricht für sich!

"Zwischen Affekt und Tabu" hieß die Begleitveranstaltung zur Ausstellung am 23.3. im Münchener Gasteig (der nach dem bekannten Nazi Carl Orff benannte Saal, war angemessen!). Das einzig Angenehme an diesem Abend waren Publikumsfragen, die auf Bezüge zur Gegenwart zielten, gerichtet an die unbeschwerte Runde auf dem Podium. Die Antworten vom Podium blieben aus. "Über kollektive und private Erinnerungsbilder nationalsozialistischer Vergangenheit" (so der Untertitel der Veranstaltung) sollte geredet werden, deutsches Leiden war gefragt - der Psychoanalytiker T. Moser (Freiburg) tat sich dann auch noch hervor, Verständnis für die deutschen Massenmörder aufzubringen, die ja bekanntlich ihre eigene Geschichte nicht aushielten und deshalb so Therapeuten wie er vonnöten wären. Der Höhepunkt des Abends war der "authentische" Bericht eines Wehrmachtsangehörigen, der im längsten Redebeitrag aus dem Publikum seine Morde auf dem Balkan legitimieren durfte.
Der Landser und die willigen ZuhörerInnen (ca 600!) brachen gemeinsam ein Tabu - das der öffentlichen Rede davon, daß "Banditen und Partisanen" auf dem Balkan kein Lebensrecht hätten, sobald ein Deutscher dies befindet.
Vereinzelte Zwischenrufer wollte das Podium unisono mit dem Publikum zur Ordnung weisen: Ausreden lassen!

Noch vor wenigen Monaten war mit den Arbeiten von Daniel Jonah Goldhagen dem "deutschen Volke" inklusive seiner HistorikerInnenzunft und Linken eine öffentliche Diskussion zu ordinary germans und deren Vernichtungswillen aufgezwungen worden. Liberale, Linke und Marxisten - sprich gewöhnliche Deutsche - reagierten mit allerlei (antisemitischem) Abwehrgehabe und haben den Konservativen darin den Rang abgelaufen.
Zu der Diskreditierung D.J. Goldhagens und der Ablenkung vom Inhalt seiner Arbeiten hat auch H. Heer maßgeblich beigetragen. Z.B. in Regensburg auf der o.g. Veranstaltung, wo er ausführte die grundlegende Motivation der Täter sei Autoritätshörigkeit gewesen; Antisemitismus ? - das würde er so nicht sagen, dem jungen Professor könne er nicht zustimmen.
In einem Essay vom 4.9.96 - lanciert in der TAZ am Tag der ersten öffentlichen Fernsehdiskussion, an der auch Heer teilnahm - posaunte er: "... die Arbeit am Holocaust geht weiter", ... sie "wird ohne Goldhagen stattfinden", dessen Arbeiten sich "als das Gegenteil von Wissenschaft - als Tautologie " erwiesen hätten.
Derzeit ist Goldhagen wieder out. Heute kreist die Diskussion im wesentlichen um die x-mal relativierte und verharmloste Tat der Wehrmacht und, daß mit Wehrmacht ja nur bestimmte Einheiten gemeint seien, die nachweislich ... usw, usf. Oder darum, wie peinlich der CSU-Chef aus München ist. Es fehlt ein Begriff von der Wehrmacht als arbeitsteiliges Ganzes, mit all ihren Angehörigen, als unerläßlicher Teil des Vernichtungskrieges, der organisierten Massenmorde, der Shoah.
Der Relativierungstext über dem Eingang im Rathaus zu München ("... Die Ausstellung darf nicht als Pauschalverurteilung aller Wehrmachtsangehörigen mißverstanden werden.") spricht Bände von Zugeständnissen nach Mitte/Rechts. In Wechselwirkung dazu kann auch der von der NPD organisierte Aufmarsch von ca 5000 vernichtungsbereiten Deutschen gesehen werden. Das "eigentliche München" (SZ) war im Erfolgstaumel darüber, daß ihr Marienplatz unbefleckt blieb (die Polizei hatte den Aufmarsch 300m vorher gestoppt).
In Frankfurt, dem derzeitigen Ausstellungsort, gibt es eine "deutschnationale und militärverherrlichende Hegemonie" vor der Paulskirche, getragen von REPs und anderen Rechtsextremen (siehe jw vom 24.4.). Der nächste Relativierungsschritt wird in Bremen bereits formuliert.
So betrachtet hat der Diskurs um die Verbrechen der Wehrmacht, nachdem die Ausstellung anfänglich gemeinhin als tabubrechend und vielversprechend gehandelt worden war und die Konservative Mitte sie eher ignoriert hatte, Beachtliches geleistet.
Aus der Konfrontation der ordinary germans wurde das Gerede von aufrechten MünchnerInnen.

Hannes Heer steht für eine ganze Generation, die 68 laut fragte und noch heute keinen Begriff von eliminatorischen Antisemitismus hat und haben will - und: ihr Begriff vom NS und Deutschland heute ist sogesehen ein gänzlich unzulänglicher, der zum Hohn der Opfer um das Wohl der Tätergesellschaft kreist. Aus den lauten Fragen der 68-er wurde das Zuhören mit viel Geduld, wenn hiesige "Vertreter der Kriegsgeneration davon erzählen, welche schlimmen Verbrechen sie selbst erlebt haben." (H.H.)
Deutsche Selbsttherapie - ein völkisches Projekt.

Nürnberg, 2.5.97
 
Babenhausen in Südhessen:

Toni Merin ist wieder zurückgekehrt in die USA. Seine abgebrannten Häuser läßt er im jetzigen Zustand stehen. Er hat Schilder aufgehängt mit der Aufschrift: "Babenhausen ist judenrein". Die Polizei geht davon aus, daß der Anschlag am 1. Mai "mit hoher Wahrscheinlichkeit einen rechtsradikalen Hintergrund" hat. Trotzdem wurde die Sonderkommision aufgelöst, der "Fall" wird ohne "konkrete Ergebnisse" abgeschlossen. Rechtradikalismus ist in Deutschland kein "konkretes" Ergebnis, auf das man erst durch eine polizeiliche Sonderkommission kommen würde. Er ist Normal- und Dauerzustand. Auch eine Belohnung von 3000 DM hat den Babenhäuser Mob nicht dazu bewegt Informationen rauszurücken; sie halten alle dicht. Die Volksgemeinschaft deckt ihre Avantgarde.

Einer "gruppe demontage" in Hamburg wird diese Information ziemlich am Arsch vorbeigehen. Zu aktueller Zeit fühlten sie sich in ihrem Vorhaben "die deutsche Nation zu demontieren" und beim Grübeln über das zugegeben nicht gerade einfache "Dilemma ..., daß eine Revolution nur mit der Mehrheit der Bevölkerung zu machen ist" (in Deutschland ja eine reizende Aussicht), abrupt gestört. Die Gruppe wurde nämlich hellwach, als sie in der jW, (und diese hatte es aus Infos über die Vorbereitung) gelesen hatte, daß in Babenhausen ein Protest gegen die Angriffe vorgesehen war. Nicht die Angriffe selbst haben sie aus ihrer Lethargie gerissen; die Verfolgung eines Juden löst bei ihnen keine große Hektik aus.

Obwohl sie nun also selbst nicht so eifrig sind a) über aktuelle deutsche Schweinereien zu informieren und b) noch weniger bereit, einige Leute zu finden, die vielleicht noch bereit sind, einen Protest dagegen zu initiieren, sich aber c) ziemlich wichtig vorkommen, ist ihnen nichts besseres eingefallen, als gerade jene zu denunzieren, die a) und b) versucht haben.
Damit haben sie ihrem Namen alle Ehre angetan. Da sie wahrscheinlich gemerkt haben, daß ihre Versuche "mit revolutionärem Bezug auf den 1. Mai" nicht so richtig in die Gänge kommen und sie sich "an sinnvolleren Orten versammeln, um sich über Analyse und gemeinsames Vorgehen zu verständigen", ihnen also "Aktionen" (wie sie es in Anlehnung an die Sprache ihrer Vorfahren bezeichnen) wie Babenhausen zuwider sind, bleibt ihnen für ihr Ziel "den Raum für einen revolutionären Bruch zu öffnen" nur noch die Möglichkeit diese Massenanbiederung mit der "Demontage" von Protesten à la Babenhausen, Stade usw. zu demonstrieren.
Wir wünschen ihnen weiter viel Erfolg bei ihrem Versuch, linksdeutschen nationalen Scheiß (z.B. die Suche nach dem deutschen Widerstand im Nationalsozialismus zum Zwecke einer Identitätsfindung) damit zu verkoppeln, Protest gegen Antisemitismus und Pogrome zu denunzieren.

Einige Publikationen (z. B. „GegenDruck“) waren der Auffassung, der Angriff auf Toni Merin und der anschließende Protest einer kleinen Gruppe wäre es nicht wert, einigermaßen ausreichend dokumentiert zu werden. Da sie nun aber auch das Problem hatten, wie können sie Kürzungen bei der Berichtserstattung vornehmen, ohne den Vorwurf des Rassismus über sich ergehen zu lassen, haben sie sich aus "Ausländerfreundlichkeit" nicht getraut, den Redebeitrag von MigrantInnen zu kürzen (als könnten MigantInnen nicht kritisiert werden). Umso eifriger haben sie es aber dort getan, wo vermeintlich dieses Risiko nicht bestand, z.B. an unserem Redebeitrag.

Unser Redebeitrag zur Demo in Babenhausen wurde bisher noch nicht vollständig abgedruckt. Deshalb haben wir ihn in diese Fluchschrift aufgenommem.
 

Redebeitrag zur Demo am 18.5.97 in Babenhausen

Wir stehen hier vor dem Rathaus von Babenhausen.
Babenhausen ist eine moderne Stadt. Der Bürgermeister, Kurt Lambert, stellt seine Stadt im Internet vor: "Zunächst dürfen wir Sie herzlichst in Babenhausen begrüßen. Wir freuen uns über Ihren Besuch und Ihre Absicht unsere Stadt kennenzulernen". Obwohl wir wahrscheinlich nicht die Besucher sind, die Herr Lambert herzlich zu begrüßen wünscht, sind wir hierher gekommen. Und gleich als wir in die Stadt kamen, haben wir sie kennengelernt: Am Ortsrand, zwei niedergebrannte Häuser, angezündet in der Nacht zum 1.Mai: Die Täter hinterließen in den Häusern antisemitische Schmierereien. Am Brand-Ort ist eine beklemmende Stille: keine betroffenen Bürger, keine der üblichen Mahnwachen, niemand der sein Bedauern ausdrückt. Wen wundert`s.

Die Ruinen, die wir gesehen haben, gehören Tony Abraham Merin. Der Brand ist der Höhepunkt einer antisemitischen Kampagne der Stadt Babenhausen gegen ihren wenig geliebten jüdischen "Mitbürger" - dem Einzigen übrigens. Die Palette des Streits, der Angriffe und Kränkungen ist lang. Eine antisemitische Gemeinschaft ergänzt sich arbeitsteilig: die Stadtverwaltung hat ihre administrativen Mittel (was da sind z.B ein Bebauungsplan oder Wegerecht), die Bürger haben ihren altbewährten Antisemitismus (z.B. Drohbriefe und Aufmarsch der Nazi-Söhne am Vater-Tag vor dem Haus Merins, das Stammtischgespräch vom "Berufsjuden") und die Aktivisten greifen zum Benzin. Jene sind die Brandbeschleuniger im wahrsten Sinne des Wortes.
Es hat nicht ausgereicht Tony Merin dazu zu bringen, Babenhausen und auch dieses Land zu verlassen, sondern es soll in Babenhausen auch nichts mehr an ihn erinnern. Deshalb hat man sich auch noch an seinem Eigentum vergriffen, nachdem er schon nicht mehr hier wohnte. Sicher hat man ihm auch noch übelgenommen, daß er sich vehement gegen die Angriffe seitens Babenhäuser Bürger - vorneweg deren "Meister" Herr Lambert - zur Wehr gesetzt hat und nicht still und leise seine Koffer packte. Und wenn er es getan hätte, wäre es auch nicht weiter aufgefallen. Niemand hat es groß interessiert oder bedauert. Nur er hat die Angriffe öffentlich gemacht.

Bürgermeister Kurt Lambert erzählt per Internet weiter:
"Gerade demjenigen, der zum ersten Mal durch unsere Straßen geht, fallen die reizvollen Fachwerkhäuser auf." In der Tat, sobald man in die Altstadt kommt, wird's behaglich: Idyllisches Fachwerk und gepflegte mittelalterliche Stadtanlagen. Doch "Mißtraue der Idylle, sie ist ein Mörderstück". In Häusern der Fahrstraße. und Amtsgasse lebte die jüdische Gemeinde von Babenhausen vom Mittelalter bis 1942. Von den Babenhäuser Juden, die den Nationalsozialismus überlebten, kam 1945 keiner hierher zurück. Die arisierten schmucken Fachwerkhäuser allerdings stehen heute noch, die wegen "Überschuldung" enteignete Synagoge wurde umgebaut; die neuen Eigentümer haben noch heute einen Nutzen.

Als die Amerikaner 1945 die Stadt eroberten, war es für kurze Zeit vorbei mit der Idylle: Sie sprengten das Rathaus. Bürgermeister Klein, der 1932 gewählt wurde und bis 1945 regierte, flüchtete - nicht gerade wie es einem Herrenmenschen geziemt - mit dem Fahrrad. Was ihm wenig nutzte. Er wurde verhaftet, kam ins Gefängnis und verschiedene Lager der Alliierten. Doch die Störung der deutschen Ordnung und Sicherheit durch die fremden Mächte währte nicht lange. Aus dem Gefängnis entlassen, arbeitete er für die Kreissparkasse, wurde 1. Vorsitzender des Wanderklubs "Berg Auf", gründete die "Unabhängige Wählergruppe". Wie überall in Deutschland half man sich gegenseitig wieder zum ehrbaren Bürger, gemeinsam standen die Ober- und Untertäter die schwere Zeit durch. 1952 kehrte Klein in die Mitte der Gesellschaft zurück, eine absolute Mehrheit wählte ihn wieder zum Bürgermeister. So konnte das erfahrene Personal den Wiederaufbau betreiben und sich gegen Wiedergutmachungszahlungen erfolgreich wehren und die arisierten Fachwerkhäuser behalten.
1960 trat Klein aus gesundheitlichen Gründen als Bürgermeister zurück und wurde zum Ehrenbürger ernannt. Die letzten Jahre seines Lebens widmete er seinem Lebenswerk, und schreibt seine Erinnerungen: "Hier in Babenhausen waren schon viele Juden ausgewandert. Das waren aber vorwiegend die Reichen, die Armen mußten bleiben. Es wurde zwar auch über die Juden geschimpft, auch von Leuten, die nicht in der Partei waren. Manchmal hörte man auch, sie sollten in Polen oder sonstwo im Osten angesiedelt werden. Ich behandelte sie wie andere Bürger auch, manchmal kamen sie und suchten Rat bei mir. Aber was konnte ich schon viel raten. Stets war ich behilflich, wenn einer auswandern wollte ...".
Programmatisch und zukunftsweisend läßt er seinen "Blick zurück !", so der Titel der Biographie, enden: "Damit möchte ich das Kapitel "Juden" abschließen, denn es soll ja hier lediglich von Babenhausen die Rede sein."

Doch den Vorwurf, die Babenhäuser hätten ihre "Vergangenheit" nicht aufgearbeitet, kann man ihnen nicht machen. Geradezu vorbildlich wird der ermordeten Juden gedacht: der Gedenkstein an der Bleiche, von einem Steinmetz aus Babenhausen gestaltet, wurde am 9. November 1988 zum 50. Jahrestag der Pogrome mit einem Festakt enthüllt. Die Stadt hatte zur Feierstunde ehemalige jüdische Bürger eingeladen, die nun in Frankreich oder Peru leben. Anna Merin, die mehrere Konzentrationslager mit schweren gesundheitlichen Schäden überlebt hatte und in Babenhausen wohnte, war nicht eingeladen worden.
Der Heimat- und Geschichtsverein veröffentlichte zum selben Datum das Buch "Die Juden von Babenhausen", und die Gedenktafel hier am Rathaus nennt ausführlich alle Opfergruppen des Nationalsozialismus.

"Erinnern", "gedenken", bewältigen" oder "aufarbeiten", diese pflichtbewußten Begriffe für das Verhältnis der Deutschen zu ihren Verbrechen, trennen fein säuberlich das "Vergangene" von der Gegenwart. So kann z.B im Bundestag, angesichts der Wehrmachtsausstellung, über das "Vergangene" geweint werden, und zeitgleich in Hinterzimmern fraktionsübergeifend ein Überfall der Bundeswehr auf Albanien beschlossen werden. Das hat wohl Bundespräsident Herzog gemeint, als er im tschechischen Parlament sagte: "Nicht vergessen oder verdrängen, erinnern macht frei !"
Diese "Erinnerungsarbeit" heißt in Babenhausen, sich mit den ermordeten und vertriebenen Juden zu beschäftigen. Die in Babenhausen Lebenden können mit reinem Gewissen verfolgt werden. Jeder Hinweis auf existierenden Antisemitismus kann durch den Verweis auf die Arbeit der Babenhäuser Barfußhistoriker zurückgewiesen werden.

Demgemäß ist für Bürgermeister Lambert das Denkmal, der aktive Heimat- und Geschichtsverein, die Gastfreundlichkeit der Stadt gegenüber ehemaligen jüdischen Bewohnern und der städtische Obolus für eine Gedenktafel deutscher Kommunen in Jerusalem der Nachweis, ja der Beweis, daß die Stadt, wie er sagt, "mit diesen Leuten (gemeint sind die Juden) absolut keine Probleme hat."
Wir haben verstanden, Juden sind in der Stadt gern gesehen, aber nur zu offiziellen Gedenk-Zeiten und nur mit Rückfahrkarte. Wir glauben dem Bürgermeister gerne, wenn er 1993 sagte, daß es im Stadtrat angesichts der bevorstehenden Auswanderung Tony Merins "kein großes Verlangen (gibt), mit ihm ins Reine zu kommen."
Das ist verständlich, denn Bewältigen heißt erledigen, abschließen, hinter sich bringen. Wer seine Vergangenheit "bewältigen" will, will sie loswerden. (nach Gert Kalow)

Antisemitismus kann Bürgermeister Lambert bei sich und in Babenhausen nicht feststellen. Er steht mitten im Wald und fragt, wo sind hier die Bäume. Er ist genauestens darüber informiert,
- was in den Drohbriefen und am Telefon zu Merin gesagt oder geschrieben wird,
- welche Sprüche seine "lieben Mitbürger und Mitbürgerinnen" am Stammtisch drauf haben,
- wie im Stadtrat über Merin gesprochen wurde,
- wie das Ganze von einer antisemitischen Stimmung zur tödlichen Tat kumuliert.
Aber nein, Antisemitismus oder rassistische Angriffe in Babenhausen hält er "für nicht bewiesen".

Es sprudelt nur so aus ihm heraus: Merin "sei behandelt worden, wie jeder andere auch" (wir erinnern an den gleichen Spruch von Bürgermeister Klein selig) und bedient sich aus dem Wörterbuch des Unmenschen: eine "Sonderbehandlung" werde es nicht geben. Auch Lambert weiß, was "Sonderbehandlung" in Deutschland für Juden hieß: der Tod durch Erschießen, Erhängen, oder durch Gas. Deshalb hat er die Bezeichnung pointiert gesetzt. Er kennt die Wirkung auf Überlebende, wenn er von "Sonderbehandlung" spricht. In einem Wort steckt das Vernichtungspotential des deutschen Kollektivs.
Es ist schade, daß er an dieser Stelle nicht zu uns sprechen kann, besser können wir es wahrscheinlich nicht formulieren und auf den Punkt bringen. Er würde z.B. zu uns sagen:
"Er (Merin ist gemeint) verlangt, daß wir vor ihm stramm stehen, bloß weil er ein Jude ist" und offenbart damit doch bloß seine eigene Auffassung darüber, wie ein Jude vor ihm zu stehen habe.
Damit wollen wir das Kapitel Lambert abschließen, denn es soll hier ja schließlich um den Antisemitismus in ganz Babenhausen gehen.
Der wird nämlich nach dieser Demonstration weitergehen. Die BürgerInnen Babenhausens werden sich in die tiefsten Niederungen ihrer antisemitischen Phantasien begeben und kein Argument, keine Konstruktion wird ihnen zu schmutzig oder zu dumm sein, um von sich abzulenken und andere zu beschimpfen. So werden sie versuchen, jegliche Dreckkübel über Tony Merin auszuschütten.
Aber, es wird auf sie zurückfallen; es wird nur noch mehr deutlich werden, welcher Gesinnung und Taten sie fähig sind.
Aber darüber wird der Babenhäuser Heimatverein keine Geschichten erzählen. Wie das Kaff in trauter Volksgemeinschaft versuchte den "Bürger" Tony Merin fertig zu machen, und dabei noch das Kunststück fertigbrachte sich selbst als das Opfer darzustellen.

Fluchschrift
 
 


Fußnoten:

1 Die Überlebenden des Holocaust werden in Polen nach 1945 wieder Opfer antisemitischer Pogrome und Kampagnen. Zwischen der Befreiung und dem Sommer 1947 töteten Polen hunderte Überlebende. Am 1.Juli 1946 wurden in Kielce 42 Menschen von einem Mob ermordet. Sieben der Wortführer und Mörder wurden hingerichtet.
„So verließen nach der Ermordung von zwei jungen Polen in Biala Podlaska alle 30 Überlebenden die Stadt. In Lublin wurde Leon Felhendler, einer der Führer des Aufstandes von Sobibor, ebenfalls getötet; in Lublin wurde weiterhin am 19. März 1946 Chaim Hirschmann, einer von nur zwei Überlebenden des Todeslagers in Belzec, ermordet.“ (Martin Gilbert)

2 Fritz Sauckel wurde vom Nürnberger Gericht zum Tode verurteilt und aufgehängt.

3 Koch wurde 1958 der Prozeß in Polen gemacht - seine Verbrechen in der Ukraine blieben unberücksichtigt. Er wurde zum Tode verurteilt, jedoch wegen seines angegriffenen Gesundheitszustands zu lebenslanger Haft begnadigt. 28 Jahre später, 1986, starb er im Gefängnis.

4 “Eine besondere Bedeutung kam der Sexualität zu. Ostarbeiterinnen galten offenbar häufig geradezu als Freiwild, geschützt nur von ihren Landsleuten und der rassistischen Ideologie der Nazis, die Geschlechtsverkehr mit Ostarbeiterinnen unter Strafe stellte: Dem deutschen Mann drohte das Arbeitserziehungslager, der Ostarbeiterin das KZ. Die Zahl der Verstöße gegen dieses Verbot waren dennoch groß - und auffälligerweise waren es häufig Vorgesetzte und Lagerführer, die wegen intimer Beziehungen zu Ostarbeiterinnen von der Gestapo belangt wurden.“ (Herbert, 1986)

5 Nach diesem Zitat "Schöne Zeiten" ist das Buch von Klee, Dreßen u.a benannt, in dem die Autoren 1988 Dokumente aus dem Vernichtungskrieg veröffentlichten.
 


Literatur:

Dagenbach, Klaus Koppendörfer, Peter: Eine Schule als KZ, Bd. 3 der Schriftreihe: Schule in Mannheim Hrsg. Schulverwaltungsamt der Stadt Mannheim, 1991

Gilbert, Martin: Die Vertreibung und Vernichtung der Juden. Ein Atlas Reinbek bei Hamburg 1982

Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, München 1990

Giordano, Ralph: Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte. Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg, München 1991

Grossman, Wassili; Ehrenburg, Ilja: Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden. (Herausggegeben von Arno Lustiger), Reinbek bei Hamburg 1994

Guggenheimer, Walter Maria: "Sehr geehrter Herr Mitläufer, in: Der Ruf. Eine deutsche Nachkriegszeitschrift, München 1962

Herbert, Ulrich: Apartheid nebenan. Erinnerungen an die Fremdarbeiter im Ruhrgebiet, in: Niethammer, Lutz Hrsg.), "Die Jahre weiß man nicht, wo man sie hinsetzten soll". Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin, Bonn 1983.

Herbert, Ulrich: Arbeit, Volkstum, Weltanschauung: Über Fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1995

Herbert, Ulrich: Der "Ausländereinsatz" . Fremdarbeiter und Kriegsgefangene in Deutschland 1939-1945 - ein Überblick, in: Herrenmensch und Arbeitsvölker. Ausländische Arbeiter und Deutsche 1939-1945, Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik: 3, Berlin 1986

Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des "Ausländereinsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin, Bonn 1986.

Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden, Band 2, Frankfurt am Main 1990

Klee, Ernst ; Dreßen, Willi: "Gott mit uns". Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939-1945, Frankfurt am Main 1989

Kohl, Paul: Der Krieg der deutschen Wehrmacht und der Polizei 1941-1944, Sowjetische Überlebende berichten, Frankfurt am Main 1995

Krausnick, Helmut: Hitlers Einsatzgruppen. Die Truppen des Weltanschauungskrieges 1938-1942, Frankfurt/Main 1989
Kuby, Erich: Als Polen deutsch war. 1939-1945

Mendel, Annekatrein: Zwangsarbeit im Kinderzimmer. "Ostarbeiterinnen in deutschen Familien von 1939 bis 1945. Gespräche mit Polinnen und Deutschen, Frankfurt/M. 1994

Schminck-Gustavus, Christoph U. (Hrsg.): Hungern für Hitler. Erinnerungen polnischer Zwangsarbeiter im Deutschen Reich 1940-1945, Hamburg 1984.

Steffens, Gerd: die praktische Widerlegung des Rassismus. Verbotenen Liebe und ihre Verfolgung, in: Dorn, Fred / Heuer, Klaus (Hg.): "Ich war immer gut zu meiner Russin". Zur Struktur und Praxis der Zwangsarbeitersystems im Zweiten Weltkrieg in der Region Südhessen, Pfaffenweiler 1991

Wiederhold, Ernst: "... es kam zu keinen Übergriffen, es fanden keine Erschießungen statt". Französische Kriegsgefangene und russische Zwangsarbeiter in Darmstadt-Arheiligen, in: Dorn, Fred / Heuer, Klaus (Hg.): "Ich war immer gut zu meiner Russin". Zur Struktur und Praxis der Zwangsarbeitersystems im Zweiten Weltkrieg in der Region Südhessen, Pfaffenweiler1991

Woydt, Johann: Ausländische Arbeitskräfte in Deutschland. Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Heilbronn 1987

Zimmermann, Michael: Negativer Fixpunkt und Suche nach positiver Identität. Der Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis der alten Bundesrepublik, in: Loewy, Hanno (Hg.): Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Hamburg 1992
 

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