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FAZ v. 07.05.2007

Sie haben mir alles genommen
Noel Martin ist ein Opfer rechtsextremer Gewalt - und will nun in den Tod gehen / von Claudia Bröll



BIRMINGHAM, im Mai. Noel Martin wird gekämmt. Sorgfältig zieht die Pflegerin Furchen in das schwarze wollene Dickicht der Haare. Dann tupft sie Creme auf die dunklen Lippen, zündet eine Zigarette an und lässt ihren Patienten einen tiefen Zug nehmen. Noel Martin ist ein großgewachsener Mann. Man ahnt, dass er einst eine stattliche Statur hatte. Damals in Deutschland verdrehte er vermutlich vielen Frauen den Kopf. Heute sitzt er zusammengesunken in einem Rollstuhl im Garten seines Hauses in Birmingham. Die Schultern sind eingesackt, die Beine dünn wie Stöcke. Unter dem schwarzen Nike-T-Shirt zeichnet sich ein kugeliger Bauch ab. Seine Hände stecken in schwarzen Handschuhen. Er blickt starr geradeaus, die warme Maisonne, das zarte Grün an den Bäumen und das Gezwitscher der Vögel - das alles scheint ihm gleichgültig zu sein.
„Ich habe nichts mehr, was mir Freude bereitet", sagt Noel Martin, der aus Jamaika stammt und leider auch mal in Deutschland arbeitete, zwischen zwei schnellen Zügen an der Zigarette. Fast beiläufig, als sei es nun für ihn das Selbstverständlichste der Welt, fügt er hinzu, dass er in wenigen Monaten sein Leben beenden werde. Es klingt, wie wenn jemand einen Ortswechsel ankündigt, der dringend nötig ist. „Sie haben mir alles genommen, mein Privatleben, meine Würde, alles", sagt Martin. „Und ein Leben ohne Würde ist nicht lebenswert."
Im Juni 1996 änderte sich Noel Martins Leben von einer Sekunde auf die andere dramatisch. Der Schwarze, der im Alter von zehn Jahren nach Großbritannien kam, gehörte zu den Zehntausenden britischen Bauarbeitern, die auf ostdeutschen Baustellen arbeiteten. Es war kurz vor seiner Rückkehr nach Großbritannien. Mehrere Aufträge, einer davon in China, warteten. Martin stand am Bahnhof des kleinen brandenburgischen Städtchens Mahlow, im Landkreis Teltow-Flämig unmittelbar südlich der Stadtgrenze Berlins gelegen. Er telefonierte in einer Telefonzelle mit seiner Freundin Jackie. Da hörte er plötzlich Rufe: „Nigger! Nigger!" Die glatzköpfigen jungen Männer, die ständig am Bahnhof herumhingen, riefen nicht das erste Mal Hetzparolen hinter ihm her. Er hatte sich angewöhnt, sie zu ignorieren.
Martin beendete abrupt das Telefongespräch, stieg mit zwei ebenfalls schwarzen Freunden in seinen zerbeulten Jaguar und fuhr davon. „Aus den Augenwinkeln sah ich hinter mir ein unbeleuchtetes Fahrzeug. Plötzlich blendeten die Scheinwerfer auf. Sie rasten hinter mir her, versuchten mich von der Straße abzubringen. Dann gab es einen Knall, an mehr kann ich mich nicht erinnern." Wie sich später herausstellte, hatten die Skinheads einen großen Stein durch die Heckscheibe des Wagens geschmissen. Martin verlor die Kontrolle über das Lenkrad. Das Auto kam von der Fahrbahn ab, überschlug sich mehrfach und prallte frontal gegen einen Baum. Zu Bewusstsein kam der damals Siebenunddreißigjährige erst im Krankenhaus, als man ihm mitteilte, dass seine Wirbelsäule gebrochen und er vom Hals abwärts gelähmt sei. „Zuerst dachte ich, dass ich bald wieder meine Arme benutzen könne. Erst nach einem Jahr wurde mir klar, dass ich sie nie mehr spüren würde." Seine Freunde kamen mit leichteren Verletzungen davon.
Die Täter wurden verurteilt: Der 24 Jahre alte Montageschlosser erhielt eine Haftstrafe von acht Jahren, der 18 Jahre alte Maurerlehrling eine Jugendstrafe von fünf Jahren. Beide sind mittlerweile wieder auf freiem Fuß. Entschuldigt haben sie sich bei ihrem Opfer nie. Wut oder gar Hass empfindet Martin darüber nicht. „Sie sind nicht wirklich frei. Sie werden bis zum Ende ihres Lebens nie frei sein, ihr Gewissen wird sie verfolgen." Er denke nicht mehr viel daran. „Es gibt zu viele Dinge, die in der Welt passieren, als dass man seine Zeit mit Gedanken an zwei Verrückte verschwenden sollte. Denn jemand, der Menschen allein wegen ihrer Hautfarbe hasst, ist verrückt."
Noel Martin lebt heute in Edgbaston, einem ruhigen, grünen Stadtteil von Birmingham. Das Haus, ein hübsches Backsteinreihenhaus mit spitzen Fenstern, hat er einst selbst renoviert und mit alten Möbeln liebevoll eingerichtet. Es zeugt von einer glücklicheren Vergangenheit, als Martin mit Jackie, einer weißen Britin, hier wohnte. Sie war ihm stets zur Seite gestanden, hatte sich nicht um die Blicke gekümmert, wenn das Paar einen Pub betrat. „Sie küsste mich, und die Leute schauten wieder weg." An ihrer Liebe änderte sich auch nach dem Anschlag nichts. Jackie kümmerte sich aufopfernd um ihren gelähmten Freund - bis zu dem Tag, an dem sie selbst eine unheilbare Krebserkrankung dahinraffte. Zwei Tage vor ihrem Tod heirateten die beiden. Noel Martin ließ die Liebe seines Lebens in seinem Garten beerdigen. Auf den Grabplatten stehen der Kosename „Pudds" („Pudding") und zwei selbst verfasste Gedichte. „Ich habe keine Träne vergossen, es war alles zu viel", sagt er mit unbewegter Miene. Das Letzte, was sie zu ihm gesagt habe: „Mach weiter und lass mich stolz auf dich sein!" Daran hat er sich gehalten.
Seit dem Tod seiner Frau wohnt Noel : Martin allein. Tag und Nacht wird er von ! Pflegerinnen umsorgt, die in Schichten arbeiten. Zwei sind immer an seiner Seite. Der frühere Bauarbeiter, der als kleiner Junge in Jamaika mehrere Dutzend Tiere allein versorgte, kann nur einen Arm so weit bewegen, dass er den Steuerknüppel des Rollstuhls bedienen kann. Die Pflegerinnen füttern ihn, geben ihm zu trinken, halten ihm die Zigaretten. Wie er in seiner vor kurzem in Deutschland erschienenen Autobiographie „Nenn es: mein Leben" schreibt, dauert allein das Aufstehen am Morgen vier Stunden. „Das Schlimmste ist, dass man keinerlei Privatsphäre mehr hat, nicht einmal auf die Toilette kann man alleine gehen. Ich lebe nicht, ich existiere nur noch." Täglich plagen ihn starke Schmerzen. Zwei Operationen musste er sich seit Weihnachten unterziehen, nur an wenigen Tagen konnte er seitdem das Bett verlassen.
Anders als viele Opfer von Neonazi-Verbrechen verschwand Noel Martin nicht aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Er beließ es nicht dabei, mit dem Leben als Gelähmter zu Rande zu kommen. Er wollte mit seinem Schicksal aufrütteln und gegen die stille Tolerierung von Rassismus und Rechtsradikalismus in der Gesellschaft kämpfen. Mehrere Male reiste er nach Deutschland, trat in Fernsehsendungen auf und nahm im Rollstuhl an Anti-Rassismus-Kundgebungen teil. Vor zwei Jahren besuchte er erstmals wieder Mahlow, den Ort des Verbrechens. Er ließ weiße Jugendliche jamaikanisches Essen probieren und ermutigte sie zum Besuch von Einrichtungen, in die auch Schwarze gehen werden. Nach dem Tod seiner Frau richtete er den Noel-und-Jacqueline-Martin-Fonds ein: Er ermöglicht den Austausch zwischen Jugendlichen aus Mahlow und Birmingham.
Sogar mit Rechtsradikalen, die aus seiner Sicht „gut von böse nicht unterscheiden können" und „vom Leben erst noch gebildet werden müssen", trat er in Kontakt. Eine abtrünnig gewordene Rechtsradikale lud er während einer Fernsehsendung mit ihren Kindern zu Weihnachten nach Birmingham ein. Sie kam, feierte mit Martin und seinen Freunden und bedankte sich beim Abschied. „Ich glaube, sie hat etwas von diesem Besuch mitgenommen." Trotz des schrecklichen Erlebnisses vor fast elf Jahren ist er überzeugt, dass nur eine kleine Minderheit der Deutschen fremdenfeindlich ist. „Viele Menschen sind es nicht aus tiefstem Herzen. Sie werden von Familienmitgliedern und Freunden dazu gebracht, laufen mit." Auch führende Mitglieder von Neonazi-Organisationen schrieb er an. Keiner antwortete.
Sein Engagement hat viel Bewunderung geerntet. Die Stadt Mahlow gründete nach dem Angriff die Initiative „Tolerantes Mahlow". Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck sagte bei der Vorstellung von Martins Autobiographie: „Brandenburg braucht Sie. Sie geben uns Mut und Inspiration." Aber es gibt auch andere Stimmen - und britische Medien berichten ausführlich darüber. Auf einschlägigen Internetseiten bejubelten Neonazi den Sterbenswunsch des Querschnittsgelähmten. Einer schrieb: „Niemand wird ihn vermissen. Wenn er meint, er muss sich umbringen, dann soll er das machen. Wir werden ihn nicht abhalten." Ein anderer sagte im Fernsehen: „Wir haben nichts dagegen, wenn er geht und seinen Kadaver in der Schweiz begraben lässt." Martin zeigt sich nach außen hin unberührt von den Hetzereien. „Es dauert lange, bis man den Fremdenhass komplett los sein wird. Aber irgendwann werden diesen Leuten die Ideen ausgehen."
Ihm selbst jedoch ist die Müdigkeit anzumerken, weiter gegen die Verrückten zu kämpfen. Sein Entschluss zu sterben steht fest. „Die Schmerzen, die ich jeden Tag habe, kann mir keiner mehr nehmen." Als er damals schwer verletzt im Krankenhaus in Deutschland lag, nicht in der Lage, ohne Geräte zu atmen, hatte er sich eine Frist von zehn Jahren gesetzt. In dieser Zeit wollte er sich seinen größten Wunsch erfüllen: ein eigenes Pferd bei dem Traditionsrennen „Royal Ascot" gewinnen sehen. Im vergangenen Jahr war dieses Ziel erreicht. Sein Pferd gewann, und zwar gleich zweimal innerhalb einer Woche. „Ich bin der Erste seit 30 Jahren in der Geschichte von Ascot, der das geschafft hat - und ich bin der erste Schwarze. Ich habe es all den Aristokraten, die dort herumspringen, gezeigt. Das reicht."
Ursprünglich hatte Noel Martin den 23. Juli, seinen 48. Geburtstag, als Todestag festgesetzt. Wegen juristischer Querelen muss er den Termin aber wohl um einige Monate verschieben. Martin will sein Haus und seinen Besitz vorher noch in eine Stiftung überführen, die Kinder in Afrika unterstützt. Mit dem Geld soll außerdem eine Computerbibliothek angeschafft werden, damit Kinder in seinem Heimatort in Jamaika Programmieren lernen können. Erst wenn all das erledigt ist, will er eine kleine Party mit Freunden feiern und sich verabschieden. In einer Klinik in der Schweiz soll man ihm dann einen Gift-Cocktail verabreichen und ihn in aller Ruhe aus dem Leben scheiden lassen. Der Antrag auf Sterbehilfe wurde bereits genehmigt. Ein Suizid sei es nicht. „Ich mache weiter und führe ein gutes Leben anderswo." Hat er, bis es so weit ist, noch irgendeinen Wunsch? Da erscheint erstmals ein Lachen auf seinen Lippen: „76 Jungfrauen - das wäre was."

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Schon wieder auf freiem Fuß

Ein Gericht in Potsdam verurteilte die Neonazis, die Noel Martin verfolgt hatten, im Dezember 1996 wegen rücksichtslosen Fahrens und schwerer Körperverletzung zu Haftstrafen von acht und fünf Jahren. Der Staatsanwalt hatte eine Verurteilung wegen versuchten Mordes gefordert. Nach dem Urteil sagte der Richter des Verfahren Klaus Przybilla: „Wir schämen uns wegen der vielen Fälle blinden Fremdenhasses in Brandenburg. Ich hoffe, dass dieses Urteil die Bürger von Brandenburg aufrüttelt." Die Männer gaben vor Gericht zu, die drei Bauarbeiter - unter ihnen Martin - als „Nigger" beschimpft zu haben. Sie gestanden auch, den Stein in den Jaguar geworfen zu haben. Der Unfall habe sich aber erst ereignet, als die Briten nach dem Steinwurf die Verfolgung des Wagens der Deutschen aufgenommen hätten. Bei der Vernehmung durch die Polizei hatten sich die beiden als Rechtsextreme bekannt, die keiner Organisation oder Partei angehörten. Martin hatte den Urteilsspruch befürwortet, jedoch hinzugefügt: „Auch wenn sie zu hundert Jahren verurteilt werden, sitze ich immer noch im Rollstuhl. Ich bin zu lebenslang verurteilt worden." Mittlerweile sind die Angreifer wieder auf freiem Fuß. Vier Jahre später sprach ein Potsdamer Gericht Martin einen Schadensersatz von 500 000 Mark zu, den die Täter aufbringen sollten. Außerdem sollten sie ihm bis zum Lebensende rund 1000 Mark monatlich überweisen. Es ist unklar, ob diese Summen jemals gezahlt wurden. Noel Martin lehnt es ab, über Geld zu sprechen, (clb.)