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Massemord, Versorgungsängste und Tierliebe 1945

Etwa drei Monate später reiste Leipke Distel über Villach nach Nürnberg in die US-amerikanische Zone. Diesmal war das Reisen angenehmer, denn er war im Besitz eines britischen Militärausweises. Nun zog er für lange Zeit in die Orffstraße 13 im Nürnberger Ortsteil St. Leonhard. Als Jürgen Brucklin hatte er bei einer alleinstehenden älteren Frau eine kleine Kammer gemietet. Zur Arbeit und den Treffen seiner Gruppe nahm er die überfüllte Straßenbahn, in der damals Berufstätige bevorrechtigt fahren durften. Während der vielen Stunden in der Straßenbahn hatte er Gelegenheit, die Deutschen zu beobachten und ihren Gesprächen zuzuhören. Das Lieblingsthema war die schlechte Versorgung mit Lebensmitteln: »Seit einem Jahr trinken wir nun schon Muckefuck, und wenn die Hungerpolitik der Amerikaner so weitergeht, müssen wir noch elend verrecken.« »Wir müssen jetzt doppelt und dreifach bezahlen, was die Nazis angerichtet haben. Hitler hat uns belogen und betrogen. Er hat uns den Endsieg versprochen, er hat uns Arbeit versprochen, er hat uns alles versprochen. Und jetzt das.« Besonders wütend machte es Distel, wenn die Gespräche wieso oft auf die »KZler« kamen, »die jede Menge Lebensmittel und Klamotten in den Hintern geschoben kriegen, während die Bevölkerung hungern muss. Dabei waren die meisten doch Kriminelle und Asoziale.« Auch über den begrenzten Wohnraum wurde geschimpft und über »die Unverschämtheit, dass sie mir schon wieder so einen abgebrannten Flüchtling aus dem Osten in die Wohnung gesetzt haben. Wahrscheinlich hat er Läuse und klaut wie ein Rabe.«

Zwar fand die Verhaftung mancher »Nazibonzen« und »Goldfasane« die Zustimmung vieler Fahrgäste, doch häufiger hörte Leipke das Schlagwort von der »amerikanischen Gestapo«, die schon wieder einen kleinen SS-Mann eingesperrt habe, der »keiner Fliege was zu Leide tun« konnte. Eines der häufigsten Gesprächsthemen war die »Fraternisierung« und die so genannten »Flittchen und Huren, die sich mit den Amis einlassen«. Einmal kursierte in der Straßenbahn ein Pamphlet: »Die deutsche Frau treibt's in schamloser Weise mit Ausländern! Schämst Du Dich nicht, Du Deutsche Frau? Du weißt doch, dass Du uns alle in den Schmutz hinabziehst und zugleich die Ehre der deutschen Frau beileckst. Es dauerte sechs Jahre, um die deutschen Soldaten zu schlagen, aber es dauert nur fünf Minuten, um eine deutsche Frau 'rumzukriegen! Wir haben keine Zigaretten und keine Butter, der Ausländer hat Kaffee und Zucker. Du scherst Dich nicht um seine Hautfarbe, solange er dir eine Tafel Schokolade anbietet. Dennoch hoffen wir, dass Du recht viel Spaß hast und dass Du bald den Russen in die Hände fällst. Dann nämlich wirst Du Deine Lektion bekommen, und kein deutscher Mann wird Dich mehr ansehen.« Nie hörte Distel etwas vom Volkermord an den Juden oder Äußerungen von Scham darüber. An den Litfaßsäulen waren Aufrufe der soeben lizenzierten Parteien zu den Gemeinderatswahlen im Januar 1946 zu lesen, hin Text der CSU lautete: »Das Christentum hat mit Erfolg dem Nationalsozialismus Widerstand geleistet. Eine Gottesgeißel ist von uns genommen, sorgt dafür, dass nicht eine neue über uns hereinbreche!« Auch die SPD ging auf Stimmenfang: »Wir wissen, dass das deutsche Volk ein friedliches Volk ist, dass es nur den Sirenengesängen Hitlers zum Opfer gefallen ist. Deutschland soll leben, dafür wollen wir arbeiten. Wir wollen wieder gleichwertig unter den Nationen sein.«



Ein Vorfall hatte die Nürnberger Bevölkerung besonders schockiert: Kurz nach der Befreiung waren russische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus dem Lager Langwasser Richtung Innenstadt gezogen. Ihre Stimmung war aggressiv und feindselig. Offenbar wollten sie sich an den Deutschen rächen. Unterwegs organisierten sie ein Fass Wein und betranken sich. Im Rausch änderte die Gruppe dann die Richtung und verübte ein regelrechtes Massaker im Nürnberger Zoo. Bären wurden erdrosselt, Löwen erschlagen, Flamingos wurden im Nu zu rosaroten Grillhendln. »299 unschuldige Kreaturen haben diese Barbaren niedergemetzelt. So was Grausames kann man sich kaum vorstellen«, entrüstete sich in der Straßenbahn ein älterer Herr kopfschüttelnd. Und Distel dachte nur: »Du solltest lieber froh sein, dass sie ihren Hass nicht an dir ausgelassen haben.« Diese täglichen Erfahrungen bestärkten ihn in seiner Überzeugung, dass das Leben in Deutschland so weitergehen würde, als wäre nichts geschehen. Wenn nicht bald etwas geschehen würde.

aus:
Jim G. Tobias / Peter Zinke
NAKAM Jüdische Rache an NS-Tätern, 2000


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Historie
Auf dieser Seite werden geschichtliche Daten rund um das Flußpferd präsentiert.
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1943 Im Nürnberger Zoo sterben die Kuh 9998736 und der Bulle 9998735 durch einen Luftangriff. Die Kuh Grete überlebt den Angriff.
1945 In der Nacht vom 13. auf den 14.02. sterben im Dresdener Zoo die Flußpferde Wally, Tanga und Steppke durch einen Luftangriff.
1945 Der Bulle Bubi und die Kuh Rosa im Wuppertaler Zoo überleben den II. Weltkrieg, Bubi stirbt allerdings an den Folgen seiner Kriegsverletzungen im September 1945.
1945 Die Kuh Tanga überlebt in Leipzig, später München, den II. Weltkrieg.
1945 Die Kuh Gretel / Grete überlebt in Leipzig den II. Weltkrieg.
1945 Das Tier Rosa / Hans überlebt in Königsberg / Kaliningrad den II. Weltkrieg.
1945 Die Kuh Tyutyu VI / Kincsem I überlebt in Budapest den II. Weltkrieg..
1945 Die Kuh Rosl und der Bulle Schurl überleben in Wien den II. Weltkrieg, während eines ihrer Kinder durch eine Bombe erschlagen wird.
1945 Die Kuh Csöpi überlebt in Budapest den II. Weltkrieg.
1945 Der Bulle Lorbas überlebt in Wroclaw den II. Weltkrieg.
1945 Die Kuh Olga überlebt in Berlin den II. Weltkrieg.
1945 Die Kuh Zuzana überlebt in Berlin, später Prag, den II. Weltkrieg.
1945 Der Bulle Julius / Chouchou überlebt in Paris den II. Weltkrieg.
1945 Der Bulle Knautschke überlebt in Berlin den II. Weltkrieg.
1945 Der Bulle Toni überlebt in München, später Frankfurt, den II. Weltkrieg.
1945 Der Bulle Boby I und sein Sohn Boby II überleben in Budapest den II. Weltkrieg.
1945 Die Kuh Jule / Joele überlebt in Leipzig, später Hannover und Rotterdam, den II. Weltkrieg.
1945 Die Kuh Lotte überlebt im Leipziger Zoo den II. Weltkrieg.
1945 Die Kuh Gretel überlebt im Nürnberger Zoo den II. Weltkrieg.
1945 Der Bulle Jumbo / Yumbo überlebt in Leipzig den II. Weltkrieg.
1945 Der Bulle Lutz überlebt in München den II. Weltkrieg.
1946 Die Kuh Rosa in Wuppertal stirbt durch den Ausfall der Heizung.
1947 Die britische Besatzungsmacht beschlagnahmt u. a. zwei Flußpferde im Zoo Hannover (vermutlich Mimi und Otto / Nauke) und bringt diese nach London. 1949 wurden nach Aushandlung eines Rückgabevertrages fast alle Tiere, auch die Flußpferde, zurückerstattet.
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aus:
http://www.hipposworld.de/geschichte.html (2007)