◄ "Nachbarschaftsstreit" um "Horst-Wessel-Lied" |
Wenn sich in Deutschland eine Nazi-Kameradschaft das Straßenkampflied "Horst-Wessel" reinzieht, und anschließend den Nachbarn, der sich darüber beschwert, ermordet, kann weder die Polizei noch das Gericht darin ein Verbrechen sehen. Die Polizei rät den Nazis, die Musik (noch?) nicht so laut zu stellen, das Gericht erklärt den Mord zu einem Nachbarschaftsstreit und spricht den Nazi frei. |
SZ v. 31.08.2004 Weil ein Rentner in Halberstadt keine Nazi-Musik hören wollte, musste er sterben, der Täter bekam unverständlicherweise einen Freispruch - nun wird neu verhandelt Von Annette Ramelsberger Berlin - Seit zehn Jahren waren Heide Dannenberg und Helmut Sackers ein Paar. Ein ganz besonderes Paar: ein Beispiel für die gelungene Verbindung von Ost- und West-Deutschland. 1990, kurz nach der Maueröffnung, hatten sie sich kennen gelernt: Er, der Fernfahrer aus dem westdeutschen Kleve, sie, die Hörbehinderten-Therapeutin aus Halberstadt in Sachsen-Anhalt. Zwei Menschen, die das Beste ihrer beiden Welten zusammenlegen wollten. Gerade hatten sie Helmut Sackers 60. Geburtstag gefeiert. Es waren Freunde und Verwandte vom Rhein nach Halberstadt gekommen. Einige waren zum allerersten Mal im Osten. „Wir wollten ihnen zeigen, dass es hier auch schön ist", sagt Heide Dannenberg. Eine Woche später war Helmut Sackers tot, erstochen von einem ostdeutschen Rechtsradikalen. Das Landgericht Magdeburg sprach den Täter von jeder Schuld frei. Heide Dannenberg, die die beiden Welten zusammenführen wollte, stand da und sollte den Verwandten ihres Freundes drüben am Rhein erklären, wie so etwas möglich war. Sie konnte es nicht. „Ich habe immer das Gefühl, dass ich mich rechtfertigen muss für dieses Land hier", sagt sie. Und dass ihr das überhaupt nicht gelingt - bis heute nicht, vier Jahre nach der Tat. Von morgen an wird es Heide Dannenberg möglicherweise etwas leichter fallen. Denn der Prozess gegen den Mann, der ihren Gefährten getötet hat, wird vor dem Landgericht Halle neu aufgerollt. Der Bundesgerichtshof hatte der Revision der Familie von Helmut Sackers stattgegeben und den Freispruch gegen den Rechtsradikalen aufgehoben. Was sich am 29. April 2000 im Plattenbau an der Wolfsburger Straße 48 abspielte, lief nach altbekanntem Muster. Da beschwert sich ein Bürger bei Rechtsradikalen wegen ihrer Nazi-Musik. Die warten ab, bis er allein ist und rächen sich dann - wie so oft. Das Erstaunliche diesmal ist, dass alle Zutaten für diese gefährlich-braune Melange vorhanden sind, Staatsanwaltschaft und Gericht sie aber nicht als solche werten. Helmut Sackers hörte am Abend laute Musik von den Nachbarn oberhalb dröhnen. Nicht irgendwelche Musik. Er hörte das Horst-Wessel-Lied, das Kampflied der Nazis, dessen Singen verboten ist. Er holte die Polizei. Die Beamten hörten nur laute Musik und baten die Nachbarn, leiser zu sein. Sackers sagte zu seinem Nachbarn Andreas P., 28: „Spielst Du noch einmal Nazi-Musik, erstatte ich Anzeige." Abends führte Sackers seinen Hund „Ricki" raus, einen kniehohen Mischling. Heide Dannenberg sieht noch, wie ihr Mann den Hund nimmt und nach unten geht. Dann sieht sie ihn nie wieder. Er kommt nicht zurück. Sie wird unruhig. Heide Dannenberg hört erregte Stimmen im Flur, dann kommt die Polizei. Im Hauseingang liegt mit vier Stichen getötet ihr Mann. Nachbar P. gibt an, Sackers habe den Hund auf ihn gehetzt, Sackers habe ihn mit Kopfstößen angegriffen, Sackers habe ihm die Tür gegen das Knie gerammt, so dass er Todesangst verspürt habe. Deswegen habe er sein 17 Zentimeter langes Messer gezogen und sich verteidigt. Sackers war unbewaffnet. Die einzige Zeugin für diese Schilderung ist die damalige Verlobte und heutige Ehefrau des Täters. Auf ihrer Aussage beruht das Urteil. Und genau diese Aussage ist höchst umstritten. Denn die Zeugin hatte sowohl vor der Polizei wie beim Ermittlungsrichter ausgesagt, sie sei gar nicht am Tatort gewesen, sondern in der Wohnung. Erst vor Gericht stellte sie es ganz anders dar und wurde dadurch zur Augenzeugin. Zur einzigen. Das Gericht selbst betonte, es könne sich nicht erklären, wie es zu dieser Aussage kommt - und glaubte der Zeugin dennoch. Wörtlich heißt es im Urteil: „Auch wenn die Zeugin (...) nicht nachvollziehbar zu erklären vermochte, warum sie trotz ihrer allgemeinen Kenntnis vom Notwehrrecht ihren Verlobten nicht bereits im Ermittlungsverfahren entlastet hat, ist die Kammer gleichwohl davon überzeugt, dass sie im Ermittlungsverfahren gelogen und in der Hauptverhandlung trotz ihrer offensichtlichen Neigung zu Übertreibungen jedenfalls im Kernbereich die Wahrheit gesagt hat." Andreas P. wurde aufgrund der Aussage seiner Freundin freigesprochen. Und er wurde auch noch in anderer Sache für unschuldig gehalten. Es sei ihm nicht nachzuweisen, dass er das Horst-Wessel-Lied gespielt hatte, hieß es in einem weiteren Verfahren. Diesmal hatte sein Kumpel als Zeuge ausgesagt. Der gleiche Kumpel, der noch in der Vernehmung vor der Polizei erklärt hatte, natürlich hätte man das Lied gespielt. In der Wohnung von Andreas P. waren 81 CDs von zum Teil verbotenen und indizierten rechtsradikalen Bands gefunden worden, Werke von „Landser", von „Freikorps", von „Kraftschlag". Werke, in denen zum Töten aufgerufen wird und für deren Cover auch Bilder von Leichenbergen aus den Konzentrationslagern dienen. Frisches Infomaterial der später verbotenen Neonazigruppe „Blood and Honour" gab es auch. Zu deren Sympathisanten wird Andreas P. gezählt. Aber der Tod von Helmut Sackers war laut Gerichtsurteil nur das tragische Ende eines kleinen Nachbarschaftsstreits um zu laute Musik. |