Deutsche Worte des Jahrhunderts "Führer"

"Führer"


Deutsche Worte des Jahrhunderts

Süddeutsche Zeitung -  6. Oktober 1999

Führer, 1) Militärwesen: allg. Bez. für den die Befehlsgewalt über eine Teileinheit, Einheit oder einen Verband ausübenden Unteroffizier oder Offizier. 2) Politik: Bez. für den propagandistisch hervorgehobenen Inhaber der obersten Befehlsgewalt in diktator. Herrschaftssystemen des 20. Jh., bes. im nationalsoz. Dtl. und faschist. Italien (,Duce').

Führerschein. Führerstand. Bergführer.

Führungszeugnis. Führungsqualitäten. Ein Rennwagen kann in Führung gehen - oder ein Pferd.

Auch der Wind führt: Er führt etwas mit sich, Laub z. B. Die Gardine wiederum führt nicht, sie wird geführt: Von der Führung der Vorhangstange. Und dann wieder ist es der Geist des Oheims, der führt, nämlich die Hand - so bei Schiller.
Sogar im Mund lässt sich etwas führen - oder, noch verborgener, im Schilde.
Eine Reihe von ganz unterschiedlichen Welten fächert sich mit dem Wort „Führer" und den Konnotationen, die es weckt, auf - fürsorgliche, poetische, penetrante -, aber diese Vielheit der Welten wird augenblicklich gelöscht von einer einzigen, die sich vor alle anderen schiebt: Von der Welt, die der Nationalsozialismus im Begriff „Führer" hat aufgehen lassen. Am 14. Januar 1939 erhält die deutsche Presse die „strenge Anweisung, in Zukunft A. Hitler nicht mehr als .Führer und Reichskanzler' zu bezeichnen, sondern nur noch als ,Führer'". Von jetzt an werden Herrscher und Beherrschte als Totalität gedacht: „Führen" gewinnt gegenüber bloßem „Befehlen" höheres Prestige. „Der Führer hat immer recht." So die Parole. Wer führt, führt wie Moses ins Gelobte Land - gleichsam automatisch. Der Führermythos ist geboren. Ein Reich, ein Volk, ein Führer. Es gilt die unbedingte Autorität nach „unten" und die ausschließliche Verantwortlichkeit nach „oben". Die Hierarchie, hypertroph geworden, vergottet sich selbst. Der ausschließlichen Verantwortung hat sich the German Führer am 30. April 1945 im Bunker der Reichskanzlei allerdings feige entzogen: The price was right, but the door was wrong.
Die Barbarei der Nazis hat nicht allein Menschen und Dinge verheert, sondern auch Worte: etwa das Wort „Führerschein", für das man besser Fahrerlaubnis oder sonst was sagte. Aber in den Amtsstuben fehlt es dafür an Sensibilität und vor allem: an Achtsamkeit. Wem soll so etwas wie ein „Führungszeugnis" eigentlich vorgelegt werden? Dem Führer? Das jedenfalls schwingt mit. In zusammengesetzten Begriffen wie den eben genannten versteckt sich nachhaltig das Echo des „Führers", im weiteren Sinne: der Obrigkeit. Es sind Begriffe, die eigentlich unbrauchbar geworden sind. Darin liegt die unaufhebbare Radikalität dessen, was unter dem „Führer" geschehen ist: Unbrauchbarmachung, Verwüstung, Bedeutungsfelder als verbrannte Erde.
Der Führer führt, gewiss, aber wer führt den Führer? Martin Heidegger verstieg sich eine Zeit lang zu der Idee, den Führer führen zu wollen. Er meinte, dass es seiner Philosophie gegeben wäre, die eigentliche Bedeutung der Befehle zu enthüllen. Das lässt sich der sogenannten Heidelberger Rektoratsrede Heideggers von 1933 entnehmen. Später, in rechtfertigender Absicht, bemerkt der Philosoph, „daß, zuvörderst und jederzeit die Führer selbst Geführte sind' - geführt durch das Geschick und Gesetz der Geschichte". Aha. Offenbar steht immer ein Essentialismus zur Führung der Substantive parat.
Anfangs war der Führer nur der Führer der so genannten nationalsozialistischen „Bewegung" (bald darauf nahm er für sich dann schon die Vorsehung in Anspruch).
Tatsächlich: Bewegung ist immer im Spiel, wenn es um Führung geht, ganz egal ob die Gabel zum Mund, Argumente ins Feld, ob etwas mit sich, ob ein Schlag, ein Nachweis, eine Ehe, der Haushalt oder gleich das ganze Leben geführt werden. Doch Bewegung allein ist es nicht, die den „Führer" von seinen semantischen Komplizen wie dem Leithammel oder Leitstern, dem Lehrer, dem geistigen Mentor, dem Priester oder dem Idol trennen, vielmehr ist es die Art der Bewegung.
Wie bewegt sich der „Führer" - und: Wie bewegt er?
Der „Führer" bewegt sich stramm und, metaphorisch gesprochen, schnurgerade. Er demonstriert eisernen Willen. Er geht direkt auf die Sache zu, ohne Umschweife, ohne große Umstände: Es gehört zu seiner Signatur, etwas vorzuführen. Der „Führer" inszeniert an sich selbst unumschränkte Macht, die in seiner Person Fleisch gewordene „Weltbewegung" . Darum kann von denen, die geführt werden, kein Widerspruch geduldet werden, keine Kritik. Die Führung des „Führers" ist absolut und sakrosankt. Darin wiederum besitzt sie Ähnlichkeit mit der Führung einer Vorhangschiene: Sie ist ebenso monoton und stur. Sie erschöpft sich in der hartnäckigen Wiederholung ihrer selbst.
Der „Führer" führt. Ein schönes Beispiel für Blindtext. In mancherlei Hinsicht.

THOMAS PALZER