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Babenhausen, ein Vorbild für Vergangenheits- und vor allem für
Gegenwartsbewältigung
"Die Bundesrepublik Deutschland hat einen einzigen Satz hervorgebracht.
Der Satz ist in einem Maße genial, daß aller Protest zu Gemeckere wird, alle
Beschimpfung zum Lob. Es ist der Satz eines Faschisten, der dann nicht mehr als
Faschist arbeitete, und der dazu gebracht werden sollte, sich zum Faschismus zu
äußern. Dieser Mann sprach einen einzigen Satz, und als er diesen Satz
gesprochen hatte, war klar, daß es niemals eine Erwiderung geben würde, keine
Antwort, keine selbe Welt. Der Satz lautete: Ich erinnere mich nicht!" (Ronald
M. Schernikau, Die Tage in L.)
Mit unserem Beitrag wollen wir, selbstorganisierte Migrantlnnen-Gruppen in
Deutschland, einen Monolog mit der deutschen Bevölkerung von Babenhausen führen.
Der Vorteil bei solchen Monologen ist, daß Ihr uns weder mit Euren Fragen noch
mit Eurer Besserwisserei
- wie sonst im Alltag - unterbrechen könnt, daß wir all das, was uns einfällt,
sagen, selber Fragen und Antworten stellen können, was uns halt in den Kram
paßt. Rücksichtslos, unanständig, pauschal und undifferenziert. Das versprechen
wir Euch.
Bevor wir hierher gekommen sind, haben wir uns über Euch informiert. Wir wollten
wissen und verstehen, was für Leute hier wohnen, die imstande sind, das Leben
des letzten noch hier lebenden Juden zur Hölle zu machen.
Was für Leute hier wohnen, aus deren Mitte heraus, unter dem Schutz und der
Geborgenheit der hier lebenden deutschen Volksgemeinschaft, solche Verbrechen -
wie der Brandanschlag am 1. Mai - begangen werden können, der jüdische Friedhof
mit Hakenkreuzen beschmiert werden kann, die Gräber von Juden und Judinnen
beschädigt werden und die kein Problem haben, das Vokabular des
Nationalsozialismus wieder zu benutzen: "Für Juden gibt es keine
Sonderbehandlung" sagt u.a. der Bürgermeister, ohne daß jemand etwas gegen ihn
und seine antisemitischen Äußerungen unternimmt. Noch schlimmer. Er steht mit
seiner Meinung nicht alleine da. Als demokratisch gewählter Politiker
repräsentiert er die Mehrheitsmeinung. Aber nicht nur sie.
Er repräsentiert gleichzeitig auch die Oppositionsmeinung. Wenn die Grünen in
Babenhausen ihn in Schutz nehmen, wenn die Grünen in Babenhausen keine Probleme
mit dem Brandanschlag haben, sondern nur mit Merin, dem sie vorwerfen, daß er
den Anschlag als antisemitisch bezeichnet bevor die Polizei ihre Ermittlungen
abgeschlossen hat, dann haben wir es hier mit geschlossenen Reihen eines
völkischen Konsens zu tun. Und weil der Brandanschlag auf ökologisch
unbedenkliche Weise verübt wurde, also mit bleifreiem Benzin, gibt es für die
Grünen in Babenhausen keinen, aber wirklich keinen Grund mehr Protest dagegen zu
erheben. Nur gegen unsere heutige Demonstration.
Der Brandanschlag in der Nacht zum 1. Mai war keine Frage der Moral, sondern der
Arbeitsmoral. Ein ganzes Bataillon hat in den Häusern gewühlt und
gebrandschatzt. Neun Benzinkanister wurden im Haus - laut Polizei - gefunden.
Exakte Arbeit, die Zeit, logistische Planung, Fleiß und Disziplin erfordert.
Somit wird die Vernichtung total. Nur die Suche nach dem Haßobjekt hat diesmal
keine Mühe gekostet. Diese Eigenschaften und Fähigkeiten sind nicht nur bei den
Neonazis zu finden. Daher neigen wir sogar ausnahmsweise den Äußerungen Eures
Bürgermeisters zu glauben, daß hier keine rechtsextremistische Szene existiert.
Nach unserem Verständnis, weil das nicht nötig ist. Wozu auch? Jeder ist uns der
nächste!
Kein einziger von Euch hat sich die Mühe gemacht, so zu tun, als ob es ihm leid
tut. Wenn schon nicht um Menschlichkeit vorzutäuschen, so doch wenigstens aus
taktischen Gründen: Wegen des Touri-Geschäfts, wegen des Ansehens des Ortes usw.
D.h. nicht, daß wir Euch damit Ehrlichkeit bescheinigen wollen. Es gibt nun mal
für Euch keinen Anlaß und keinen Grund irgendein Lichterkettenspektakel zu
veranstalten. Denn Ihr habt die Gewißheit und die Sicherheit, daß niemandem,
weder den praktizierenden noch den verbalen Tätern, das geringste passieren
kann.
Die Täter schwimmen hier wie Fische im Wasser. Weder dem jungen Mob von 1992,
der am Vatertag rassistische und antisemitische Parolen vor Merins Haus grölte
ist etwas passiert, noch denjenigen, die den Mordanschlag auf Merin verübten,
noch all den anderen mit ihren Grausamkeiten. Deswegen kann wieder alles
ausgekotzt und umgesetzt werden, was über Juden immer gedacht wurde und wird.
Der ganze antisemitische Dreck wird hier ohne wenn und aber präsentiert.
Das erschreckende daran ist weniger das Aussprechen solcher Sätze, weniger -
auch wenn es makaber klingt - die Durchführung solcher Taten, sondern, daß all
das mit der vorhin genannten absoluten Sicherheit für die Täter abläuft.
Genau dieses Sicherheitsgefühl wollen wir heute ein bißchen ankratzen. Dieses
Sicherheitsgefühl und Euer gutes Gewissen ist gerade das Erschreckende daran.
Weil Ihr hemmungslos und ungestört agieren könnt. Weil weitere Taten folgen
können. "Wehret den Anfängen" setzt doch voraus, daß am Anfang einer
antisemitischen oder rassistischen Pogromstimmung Widerstand entstehen muß.
Was nach der Tat passiert, ist nur Protest. Wie heute. Dies hilft den
Angegriffenen wenig. Höchstens in dem er/sie das Gefühl bekommt, nicht ganz
allein unter 80 Mio. potentiellen Täterinnen zu sein.
Erst jetzt verstehen wir. warum Ihr vor unserer heutigen Demonstration so viel
Angst habt. Warum ihr Euch so viele Sorgen um Eurer Volksfest und Eure
Fachwerkhäuser macht. Es ist nicht nur das Abstempeln Eures Ortes als eines der
deutschen Grausamkeiten. Es ist auch die Projektion Eures Denkens und Eurer
Handlungen auf uns, Wenn ihr vor der ZDF-Kamera sagt, wie damals in 1993, "Juden
haben bei uns nichts zu suchen", dann war dies nicht nur eine Unmutsäußerung,
sondern die öffentliche Ankündigung der daraus folgenden Taten. Dann wird dieser
Wunsch bis zu Ende geführt. Ohne Abstriche. Mit lebensgefährlicher, mit
tödlicher Konsequenz.
In dieser Anomalie Eurer Gesellschaftsformation liegt das Gefahrenpotential für
all diejenigen, die als Nichtdeutsch gelten. Von Euch selbstkritische Töne zu
hören ist ausgeschlossen.
Wenn jemand hier selbstkritisch sein sollte, dann höchstens wir selber. Wir, die
schon 1993 von euren Taten und eurem Erfolg - die Verjagung von Tony Abraham
Merin - erfuhren. Denn das schockierende daran ist, daß es heute außer uns und
unseren politischen, sozialen und privaten Zusammenhängen, wo wir es noch
aushalten können, nichts mehr gibt. Wenn Tony Abraham Merin sagt, daß niemand
von Babenhausen sein Bedauern über dieses Verbrechen geäußert hat, dann ist das
nicht so zu interpretieren, daß es außer Rechten keinen mehr in Babenhausen
gibt. sondern daß alle Parteiformationen der Deutschen hier präsent sind, Von
rechts bis links. Drinnen und außerhalb des Stadtparlaments. in Sachen
Antisemitismus aber gibt es in Deutschland keine Parteien (ob links oder rechts}
und keine Ideologien mehr. Nur noch anständige Deutsche. Die, die noch vor
kurzem von Revolutionen träumten, revolutionieren zur Zeit - in Schwarz/Rot/Gold
- ihr inneres und äußeres Outfit. Oder passen sich mit rasanter Geschwindigkeit
dem normal-tödlichen Zustand der deutschen Gesellschaft an, was im Linksjargon
mit "Politik für den kleinen Mann" übersetzt wird.
Unsere heutige Demonstration hätte eigentlich damals, 1993 stattfinden müssen.
In der Annahme das Schlimmste zu verhindern. Dies ist nicht geschehen. Weil Eure
Landsleute uns in anderen Gegenden aufgehalten haben: vielleicht habt Ihr mal so
nebenbei davon gehört oder könnt Euch gar - auch wenn es schwer fällt - daran
doch erinnern:
Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagenl, Solingen und .Mölln, Mannheim-Schönau und
Mannheim-Waldhof, Ochtendung und Grevesrnühlen, Stade und Teitow-Seehof bei
Berlin und überall dort, wo die deutsche Volksgemeinschaft, einzeln oder in
Rudelformation, betroffen oder besoffen, Migrantinnen und Flüchtlinge
angegriffen und umgebracht hat. Wo antisemitische und rassistische Ekstasen und
Vernichtung die Voraussetzungen für das Deutschwerden des Teutonenkollektivs
waren und sind.
Dort wo wir waren, sind wir immer zu spät gekommen. Um um unsere Toten zu
trauern und unsere Wut zu artikulieren, Wie hier auch. Wenn Tony Abraham Merin
verkündet aus Deutschland wegzugehen, so sind wir nicht imstande, ihn vom
Gegenteil zu überzeugen. So schmerzhaft es ist und so sehr es uns ärgert, daß
Ihr wieder einmal gesiegt habt. So absurd es klingt: er hat tatsächlich
hier keine Chance.
Nichtsdestotrotz gibt es für Euch kein Grund zu Beruhigung. Wenn Ihr der
Illusion unterliegt. Ruhe nach unserem Weggang zu kriegen, dann habt Ihr Euch
geirrt. Solange wir es noch hier Im Land der Täter- und der Tierschützer, im
Land der Pogrome und der getrennten Müllsammlung aushalten können, müßt Ihr Euch
auf Schritt und Tritt vor uns in Acht nehmen, Unsere Präsenz heute will genau
dieses Verhältnis zwischen Euch und uns klar stellen.
Eure vorbildliche Erforschung und Forschung über die von Euren Vorfahren
ermordeten Jüdinnen aus Babenhausen und aus der Gegend - wie in Eurem Buch "Die
Juden in Babenhausen" dokumentiert wird -‚ sowie Eure Mahnmäler für diese Opfer
können uns nicht täuschen. Im Gegenteil: Wir befürchten, daß Ihr gerade deswegen
so unverfroren und hemmungslos auftretet, daß Ihr gerade deswegen an Euren
Stammtischen und in Euren Behörden kein Blatt vor dem Mund nehmt. Es sind die
Haltung und die Handlungen von Leuten, die ihre Aufgabe -
Vergangenheitsbewältigung genannt - als erledigt betrachten, die eine saubere
Weste zu haben meinen, um heute mit dem Eifer des guten Gewissens ihre Gegenwart
zu bewältigen: indem sie an Juden Hand anlegen.
Daher hat es uns auch gar nicht gewundert als wir im vorhin erwähntem Buch immer
wieder bei den ermordeten Juden und Jüdinnen den Zusatz fanden. "Verschollen in
Auschwitz". Wie sagte der Faschist? "Ich erinnere mich nicht". Ihr habt dafür
einen anderen Ausdruck gefunden. "Verschollen in Auschwitz". Ihr wollt damit
sagen, daß Ihr bis heute nicht genau wißt, was dort in Auschwitz mit den
deportierten Juden und Jüdinnen aus Eurem Ort und aus ganz Europa eigentlich
passiert ist. Bei unserem nächsten Besuch werden wir euch darüber aufklären und
das Geheimnis von Auschwitz lüften.
An der Stelle wollen wir unseren Monolog für einen Moment unterbrechen und uns
an die hier lebenden MigrantInnen wenden:
Man/Frau hat in diesem Land zwei Möglichkeiten: sich entweder den deutschen
Zuständen anpassen, in der Illusion "mit wird schon nichts passieren".
Dies kann nur eine zeitlang gut gehen, wenn sich die Migrantlnnen den Sitten und
Gebräuchen der Einheimischen annähern.
Es ist zwar schwer, aber es geht, wie manche etablierte Migrantlnnen-Vereine
nachweisen. Aber dann muß nicht nur die Folklore-Gruppe, sondern auch der
Antisemitismus stimmen. Damit eine gemeinsame Basis da ist.
Wie gesagt. Dies wirkt gut für einen begrenzten Aufschub des zu erwartenden
Angriffs. Die zweite Möglichkeit ist, Widerstand gegen diese Zustände zu
leisten. Aus der Geschichte und aus unserer eigenen Erfahrung hier haben wir uns
für das zweite entschieden. Seitdem fühlen wir uns auch sicherer.
Zurück zu unserem Monolog. Was die aktuelle Geschichte betrifft, müssen wir mit
allem rechnen: von dem totaler Schweigen der geschlossenen Reihen Eures
völkischen Kollektivs bis hin - bei Verhaftung der Täter - zu den üblichen
Ritualen von irregeleiteten Jugendlichen, von Besoffenen oder frustrierten armen
Tätern oder oder oder. Auch vor einer Lübecker Variante würdet Ihr nicht
zurückschrecken.
Die ersten Äußerungen in diese Richtung lassen schlimmstes erahnen. Denn aus der
Geschichte und aus Eurer Sozialisation ist es für Euch ein Leichtes, die Opfer
zu Tätern zu machen.
All das wird erwähnt, weil es heute längst nicht mehr genügt die FAZ zu lesen,
um zu wissen wie in diesem Land Politik und Stimmung gemacht wird. Man/Frau muß
an den Stammtischen näher rücken, Man/Frau muß genau zuhören und lauschen, was
die deutschen Stammtische. was die deutschen Einkaufsstraßen, was die deutschen
Nachbarn von sich geben, um das, was Morgen verkündet, beschlossen und umgesetzt
wird, rechtzeitig zu erfahren.
Unser Monolog geht gleich zu Ende- Wir hoffen, daß wir hiermit unser Versprechen
vom Anfang - pauschal und undifferenziert zu sein - eingehalten haben, Da wir
immer wieder gleich hinterher den Vorwurf bekommen, wir seien selber gegen
andere Völker oder daß wir zu destruktiv sind, wollen wir unsere Sensibilität
für Völkerverständigung mit einem konstruktiven Vorschlag zum Ausdruck bringen
und die alte gute Forderung von Wolfgang Neuss bekräftigen:
- Für eine gemeinsame Grenze zwischen Polen und Frankreich !
Vieler' Dank für Eure Geduld und für Eure Wut.
Migrantlnnen-Gruppen:
Café Morgenland (F), Dirna (HH), Köxuz (B), Sere Kevir (FR), !sol lez ruw! (N/M)
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