Ein Brief von Sjunja Deresch
Isjaslawl
Guten Tag, Onkel Mischa!
Ich schreibe aus dem heimatlichen Isjaslawl, das Sie nicht wiedererkennen
würden. Von unserer Ortschaft ist eine knappe Hälfte übriggeblieben. Und
wozu ist sie überhaupt übriggeblieben ? Es wäre besser, wenn es sie nicht
gäbe, wenn es all das nicht gäbe, wenn ich nicht geboren wäre! Ich bin
jetzt nicht mehr der Sjunja, den Sie kannten. Ich selbst weiß auch nicht
mehr, wer ich eigentlich bin. Alles erscheint wie ein Traum, ein
entsetzlicher Traum. In Isjaslawl gibt es nur noch mich und Feldman, Kiwa,
unseren Nachbarn - sonst niemanden mehr von den 8000 Menschen. Alle sind
tot: meine liebe Mama und mein lieber Papa, mein lieber Bruder Sjama, Isa,
Sarah, Boruch... Ihr lieben guten Menschen, wie schlimm ist es euch
ergangen!... Ich kann nicht zu mir kommen, kann nicht schreiben. Wenn ich
erzählen würde, was ich durchgemacht habe - ich weiß nicht, ob Sie es
verstehen würden. Ich bin dreimal aus dem Konzentrationslager geflohen und
habe, als ich bei den Partisanen war, wiederholt dem Tod ins Auge gesehen.
Lediglich die Kugel eines Fritzen hat mich kampfunfähig gemacht. Doch ich
bin schon wieder gesund - das Bein ist ausgeheilt, und ich werde den Feind
aufspüren, für alles Rache üben. Ich möchte mich mit Ihnen treffen, und
sei es nur für fünf Minuten. Ich weiß nicht, ob es möglich sein wird.
Vorläufig sitze ich noch zu Hause, obwohl dieses Haus eigentlich nur noch
eine Ruine ist, doch man sagt eben "zu Hause". Ich habe einen Brief von
Tanja erhalten. Ich habe mich sehr gefreut, daß von meinen Nächsten noch
jemand lebt. Ich warte auf Antwort. Ihr Lieben, Guten, wenn wir uns doch
recht bald sehen könnten... Onkel Mischa, denk daran, der faschistische
Menschenfresser ist unser schlimmster Feind. Welch schrecklichen Tod
hatten die Unseren!!! Schlag ihn tot, schneide ihn in Stücke! Du darfst
ihnen niemals in die Hände fallen. Das ist ein zusammenhangloser Brief
geworden, ebenso zusammenhanglos, traurig und nutzlos wie mein Leben.
Trotzdem, ich lebe noch... um Rache zu nehmen. Auf Wiedersehen Onkel
Mischa. Bis bald, bis zum ersehnten Treffen! Ein Gruß an alle, alle, alle!
Mir ist, als wäre ich aus dem Jenseits zurückgekehrt.
Ich beginne jetzt ein neues Leben - das Leben einer Waise. Wie ? Das
weiß ich selbst nicht. Schreiben Sie mir öfter, ich warte auf Antwort.
Warum schreiben Onkel Schlema, Josef und Gita und die anderen nicht? Es
grüßt Sie Ihr Neffe Sjunja Deresch.
Meine Anschrift ist die gleiche wie früher. Im übrigen bekomme ich den
Brief, egal wie Sie schreiben, denn außer mir ist hier niemand.
14. IV. 1944
Zum Druck vorbereitet von I. EHRENBURG
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aus:
Wassili Grossmann, Ilja Ehrenburg (Herausgeber)
Das Schwarzbuch, Der Genozid an den sowjetischen Juden
(in deutscher Sprache herausgegeben von Arno Lustiger), 1994
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