<<
 

14.04.1944. "...,denn außer mir ist hier niemand."



Ein Brief von Sjunja Deresch

Isjaslawl

Guten Tag, Onkel Mischa!
Ich schreibe aus dem heimatlichen Isjaslawl, das Sie nicht wiedererkennen würden. Von unserer Ortschaft ist eine knappe Hälfte übriggeblieben. Und wozu ist sie überhaupt übriggeblieben ? Es wäre besser, wenn es sie nicht gäbe, wenn es all das nicht gäbe, wenn ich nicht geboren wäre! Ich bin jetzt nicht mehr der Sjunja, den Sie kannten. Ich selbst weiß auch nicht mehr, wer ich eigentlich bin. Alles erscheint wie ein Traum, ein entsetzlicher Traum. In Isjaslawl gibt es nur noch mich und Feldman, Kiwa, unseren Nachbarn - sonst niemanden mehr von den 8000 Menschen. Alle sind tot: meine liebe Mama und mein lieber Papa, mein lieber Bruder Sjama, Isa, Sarah, Boruch... Ihr lieben guten Menschen, wie schlimm ist es euch ergangen!... Ich kann nicht zu mir kommen, kann nicht schreiben. Wenn ich erzählen würde, was ich durchgemacht habe - ich weiß nicht, ob Sie es verstehen würden. Ich bin dreimal aus dem Konzentrationslager geflohen und habe, als ich bei den Partisanen war, wiederholt dem Tod ins Auge gesehen. Lediglich die Kugel eines Fritzen hat mich kampfunfähig gemacht. Doch ich bin schon wieder gesund - das Bein ist ausgeheilt, und ich werde den Feind aufspüren, für alles Rache üben. Ich möchte mich mit Ihnen treffen, und sei es nur für fünf Minuten. Ich weiß nicht, ob es möglich sein wird. Vorläufig sitze ich noch zu Hause, obwohl dieses Haus eigentlich nur noch eine Ruine ist, doch man sagt eben "zu Hause". Ich habe einen Brief von Tanja erhalten. Ich habe mich sehr gefreut, daß von meinen Nächsten noch jemand lebt. Ich warte auf Antwort. Ihr Lieben, Guten, wenn wir uns doch recht bald sehen könnten... Onkel Mischa, denk daran, der faschistische Menschenfresser ist unser schlimmster Feind. Welch schrecklichen Tod hatten die Unseren!!! Schlag ihn tot, schneide ihn in Stücke! Du darfst ihnen niemals in die Hände fallen. Das ist ein zusammenhangloser Brief geworden, ebenso zusammenhanglos, traurig und nutzlos wie mein Leben.
Trotzdem, ich lebe noch... um Rache zu nehmen. Auf Wiedersehen Onkel Mischa. Bis bald, bis zum ersehnten Treffen! Ein Gruß an alle, alle, alle! Mir ist, als wäre ich aus dem Jenseits zurückgekehrt.
Ich beginne jetzt ein neues Leben -  das Leben einer Waise. Wie ? Das weiß ich selbst nicht. Schreiben Sie mir öfter, ich warte auf Antwort. Warum schreiben Onkel Schlema, Josef und Gita und die anderen nicht? Es grüßt Sie Ihr Neffe Sjunja Deresch.
Meine Anschrift ist die gleiche wie früher. Im übrigen bekomme ich den Brief, egal wie Sie schreiben, denn außer mir ist hier niemand.
14. IV. 1944

Zum Druck vorbereitet von I. EHRENBURG

l
aus:
Wassili Grossmann, Ilja Ehrenburg (Herausgeber)
Das Schwarzbuch, Der Genozid an den sowjetischen Juden
(in deutscher Sprache herausgegeben von Arno Lustiger), 1994