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26.08.1944: Groß-Gerauer Mob ermordet 2 amerikanische Soldaten


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Charles Evans' Schicksal nimmt am 26. August 1944 seinen Lauf. Damals fliegt er mit seiner Crew, die sich den Namen „Hard to get" gegeben hatte, einen Angriff auf das Hydrierwerk in Gelsenkirchen. Dann wird das Flugzeug abgeschossen. Sechs Besatzungsangehörige überleben, unter ihnen der Navigator Evans sowie Bordingenieur Harvey Purkey. Sie werden gefangengenommen und sollen mit dem Zug zum zentralen Verhörzentrum der Luftwaffe nach Oberursel gebracht werden.

Zwischen Mainz und Wiesbaden gelingt den damals 21 Jahre alten Männern die Flucht. Ihr Ziel: über den Rhein nach Frankreich. Doch zwischen Trebur und dem Rheinübergang Kornsand werden sie von einem Gänsehirten entdeckt und wenig später festgenommen. Anstatt wie vorgeschrieben die Gefangenen der Luftwaffe zu übergeben, bringt der Bürgermeister von Trebur die beiden amerikanischen Soldaten persönlich nach Groß-Gerau - eine folgenschwere Entscheidung.

In der Kleinstadt herrscht Ausnahmezustand. Denn am Nachmittag desselben Tages sollen die Toten, eines Bombenangriffs beerdigt werden, der niemals Groß-Gerau hätte treffen sollen, wie der in der Stadt geborene Historiker Gerhard Raiss rekonstruiert hat. Eigentlich hatten die Bomber der Royal Air Force in der Nacht auf den 26. August Darmstadt und Rüsselsheim zum Ziel.
Ein deutscher Jagdflieger hatte über Groß-Gerau eine der Maschinen abgeschossen. Es handelte sich um ein Markierungsflugzeug, das mit Leuchtbomben das Zielgebiet kennzeichnen sollte. So explodierten die phosphorisierenden Markierungsbomben mitten in Groß-Gerau - und setzten für nachfolgende Bomber das Zeichen zum Ausklinken ihrer tödlichen Fracht.
10 000 Brandbomben, 50 Sprengbomben, 50 Phosphorkanister und sechs Luftminen verwüsteten die Kleinstadt. Die Stadtkirche, zwei Schulen, der Bahnhof und 230 Wohnhäuser wurden in jener Nacht zerstört. Mehr als 1000 Groß-Gerauer waren obdachlos, 28 Menschen starben in dem Inferno.

Der verheerende Angriff ist erst zwei Tage her, als der Bürgermeister von Trebur mit den zwei amerikanischen Gefangenen in die zerstörte Kleinstadt fährt. Die Kreisleitung der NSDAP und der Landrat ordnen kurzerhand an, die beiden Männer der Menge zu überlassen. Auf der Frankfurter Straße zwischen Rat- und Stadthaus versammeln sich daraufhin etwa 300 wütende Groß-Gerauer. Ein Mob von mehr als 50 Leuten drischt mit Eisenstangen, Holzlatten, Gürteln und Fäusten auf die beiden jungen Männer ein. Eine zweifache Mutter zertrümmert mit ihren Schuhen die Gesichter der Flieger. Sie brüstet sich noch Tage später damit, nie zuvor ihre Schuhe so schnell ausgezogen zu haben.
Die Menge wütet mehr als eine Stunde lang. Dann erst lässt der Groß-Gerauer Polizeichef die verletzten, aber noch lebenden Flieger ins Stadthaus bringen und das Tor schließen. Im Hof befiehlt er zwei Angehörigen der NSDAP, damals 24 und 29 Jahre alt, die beiden Flieger umzubringen - was sie mit Dutzenden Schlägen einer Eisenstange auf Gesicht, Nacken und Schädel auch tun. Der spätere Exhumierungsbericht der Amerikaner hebt hervor, dass es wegen der brutalen Verletzungen unmöglich sei, festzustellen, ob auch eine Schusswaffe verwendet worden sei.

Im Sommer 1945 klagt ein amerikanisches Militärgericht vier Groß-Gerauer der Übergriffe an. Zu den Angeklagten gehört auch die Frau, die mit ihren Schuhen die Soldaten misshandelte. Sie wird zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Bis auf einen Täter, der erst 1947 gefasst wird, müssen sich die an dem Mord beteiligten Nationalsozialisten im August 1945 verantworten. Das Militärtribunal spricht Todesurteile gegen den Groß-Gerauer Polizeichef und einen Mithelfer aus, die im April 1946 vollstreckt werden. Der Mittäter, der erst später gefasst wird, kommt mit drei Jahren Zuchthaus davon. Er gibt vor, sich durch eine kriegsbedingte Kopfverletzung an nichts mehr erinnern zu können.
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aus.
Tatiana Roeder. Mit Eisenstangen die Schädel eingeschlagen, FAZ 18.10.2018