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Vor 60 Jahren versuchten Häftlinge aus dem KZ Mauthausen zu fliehen /
Von Thomas Karny
Mauthausen, Anfang Jänner 1945.
In dem von den Nazis errichteten Konzentrationslager bereiteten Häftlinge
etwas Unglaubliches vor: Sämtliche gehfähige Gefangene des Blocks 20
wollen einen Massenausbruch wagen, um dem sicheren KZ-Tod zu entkommen.
Der Block 20 stand zu spezieller Verwendung: Dorthin kamen kranke
Häftlinge oder solche, die bald getötet werden sollten, deshalb galt er
allgemein als "Todesblock". Am 2. März 1944 war von Wilhelm Keitel, dem
Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, der Geheimbefehl zur "Aktion K"
erlassen worden. Er ordnete - entgegen dem Völkerrecht - an, russische
Offiziere nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, sondern ins KZ
Mauthausen zu bringen. "K" stand für "Kugel". Den schnellen Tod durch
Erschießen jedoch fand kaum ein Häftling, die meisten verhungerten.
In den zehn Monaten seit Erlass der "Aktion K" waren im Block 20 des KZ
Mauthausen 4.000 Mann gestorben.
Die Leiden der Häftlinge
Häftlinge, die erst Anfang des Jahres 1945 ins Lager gekommen waren,
erkannten, wie aussichtslos es war, auf die Befreiung zu warten. 600
Männer mussten in einer für nur halb so viele Personen geplanten Baracke
Platz finden. Vom Lager selbst war der Block 20 durch eine Mauer, auf der
ein 380-Volt-Stacheldraht lief, getrennt. Ein MG-Posten auf einem Wachturm
sicherte nachts den Block. Tagsüber hatten die Häftlinge im Blockvorhof
stramm zu stehen oder die schikanösen SS-Anweisungen zu "Leibesübungen" zu
befolgen. Im gehockten Gänsemarsch wurden sie durch den Vorhof getrieben,
bis die Schwächsten umkippten, vor Erschöpfung nicht mehr aufstehen
konnten und von den SS-Aufsehern erschossen oder zu Tode getreten wurden.
K-Häftlinge wurden nicht zur Arbeit herangezogen, weil die Lagerleitung
befürchtete, dass sich ihnen hierbei Fluchtmöglichkeiten bieten könnten.
Außerdem sollte der Kontakt zu anderen Gefangenen verhindert werden.
Nachts schliefen die Gefangenen in der von Möbeln vollgeräumten Baracke am
Fußboden, auf Grund des geringen Platzes in Sardinenlage, Kopf an Fuß. In
der kalten Jahreszeit wurde der Fußboden manchmal mit Wasser ausgespritzt,
am nächsten Morgen hatte mancher eine Lungenentzündung, der er wenige Tage
später erlag. Die von der Lagerleitung vorgegebene Tagesnorm, die
unbedingt zu erfüllen war, lag bei zehn Toten. Allein aufgrund der
unzureichenden Nahrungsversorgung - nur alle drei Tage eine dünne
Steckrübensuppe - überlebten die Gefangenen nur wenige Wochen. Auch wenn
alliierte Truppen im Westen bereits die deutsche Grenze überschritten
hatten und die Rote Armee schon vor Budapest stand, würde doch zu viel
Zeit vergehen, um die Befreiung zu erleben. Und darauf zu hoffen war im
Grunde illusorisch, weil die K-Häftlinge damit rechnen mussten, vor
Ankunft ihrer Befreier von der SS erschossen zu werden.
Die Todgeweihten entschlossen sich deshalb zur Flucht. In der Nacht vom 1.
auf den 2. Februar 1945 gelang 419 Häftlingen der Ausbruch aus dem Block
20. Seitens der Kommandantur des KZ Mauthausen wurde befohlen, dass
jedermann - also SS, SA, HJ, Gendarmerie, Volkssturm und Zivilbevölkerung
- sich an der Verfolgung der Ausgebrochenen zu beteiligen hatten. Am 2.
Februar 1945 um 0.50 Uhr begann die "Mühlviertler Hasenjagd", wie die SS
die Einholung der Gefangenen bezeichnete.
In den frühen Morgenstunden jenes Tages, es war Maria Lichtmess, wurde im
Mühlviertel öffentlich zum Morden aufgerufen und die Mobilmachung des
allerletzten Aufgebots betrieben. Alte Männer wurden aus den Betten
geholt, wenige nur konnten sich mit dem Hinweis auf ein schweres
körperliches Leiden oder stark verminderte Sehkraft dem Volkssturm
entziehen. Junge Buben bekamen ein Gewehr in die Hand gedrückt und sollten
Haus, Hof und Familie gegen die marodierenden und angeblich höchst
gefährlichen KZ-Ausbrecher schützen. In Mauthausen, Schwertberg, Haid,
Ried in der Riedmark, Pregarten, Tragwein und in den umliegenden Wäldern
hetzten die Einheimischen die Flüchtlinge zu Tode, Bauern, Fleischhacker,
Beamte und Gewerbetreibende ermordeten ausgehungerte, abgemagerte,
körperlich extrem geschwächte und unbewaffnete russische Offiziere. Die
Leichen wurden von der SS zu Sammelstellen geschafft, wo sie gestapelt und
manchmal mehrere Tage zur Abschreckung liegen gelassen wurden.
Innerhalb der ersten 24 Stunden sind 300 Flüchtige aufgegriffen und
ermordet worden. Teils aus freiem Willen, teils eingeschüchtert durch die
Drohungen der SS, der Ortsgruppenleiter und des KZ-Kommandanten Franz
Ziereis, der von Ort zu Ort raste, die Teilnahme an der Menschenhatz
anordnete und "Drückebergern" sowie allen, die den Flüchtigen in
irgendeiner Weise Hilfe oder gar Schutz zukommen ließen, die Verschickung
ins Lager in Aussicht stellte, nahmen Teile der Zivilbevölkerung an der
Verfolgung teil.
Man denunzierte oder legte selbst Hand an: Ein Bauer erschlug einen
Flüchtigen mit einem Sauschlegel. Ein Volkssturmmann jagte einem
Entsprungenen zunächst eine Ladung Zwölferschrot in den Rücken und tötete
ihn anschließend mit heftigen Tritten gegen den Kopf. Ein Fleischer
ertappte einen Häftling bei der Suche nach Essen und stach ihn ab. Ein
Gemischtwarenhändler drang, mit einem Gewehr bewaffnet, in den
Gemeindekotter ein und richtete unter den dort verwahrten K-Häftlingen ein
Blutbad an. Ein Versicherungsangestellter liquidierte während seines
Fronturlaubes etwa zwanzig verwundete Häftlinge durch Genickschuss, seine
Hoffnung jedoch, dadurch zum Offizier befördert zu werden, erfüllte sich
nicht. Ein hoher Beamter der Gauverwaltung brüstete sich nach der Rückkehr
auf seinen Arbeitsplatz ob seines mörderischen Einsatzes. HJ-Buben wurden
von SS-Angehörigen gezwungen, aufgegriffene Entsprungene zu erschießen.
Der Jugendliche Karl Buchberger kostete die blindwütige Schießerei das
Leben, weil ihn ein SS-Mann für einen flüchtigen Russen hielt. Beispiele
der Grausamkeit, denen zahlreiche weitere hinzugefügt werden könnten.
Menschen mit Courage
Doch wurden in all dieser Bestialität auch mutige Zeichen der
Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe gesetzt. Kübel mit gekochten Erdäpfeln
und warmer Milch, die vor die Häuser gestellt wurden. Gewand, das
mancherorts auf die Wäscheleine gehängt wurde, damit die Häftlinge
Zivilkleidung fänden. Kühe, die von den Bauern in den Schnee
hinausgetrieben wurden, um die Fußspuren der Flüchtenden zu zerstören.
Volkssturmmänner, die wegsahen, wenn ihnen wieder einige von diesen
ausgemergelten Gestalten vor die Flinte liefen. Die Gendarmen von
Schwertberg und Mauthausen, in deren Rayons zwar die meisten Häftlinge
aufgegriffen wurden, die sich selbst jedoch aus der aktiven Verfolgung
heraushielten. Und schließlich jene, die der Courage Namen und Gesicht
gaben. Etwa die Familie Langthaler, die auf ihrem Hof in der Nähe von
Schwertberg Nikolai Zemkalo und Michael Rjabschtinskij bis zum Kriegsende
versteckten und dafür später sowohl von Österreich als auch von der
Sowjetunion offiziell geehrt wurden. Oder das Ehepaar Huber in Holzleiten,
das den Ostarbeiter Leonid Schaschera nie danach fragte, wofür er die
regelmäßig abgezweigten größeren Essensrationen verwendete.
Vielleicht wollte man es auch gar nicht wissen, dass damit drei Russen
durchgefüttert wurden, die ausgerechnet im Hof des Bürgermeisters
untergeschlüpft waren und dabei doppeltes Glück hatten. Zum einen
gelangten sie trotz regelmäßiger Kontrollgänge der Gendarmerie unbemerkt
in das Gehöft, zum anderen hielt genau diese als zuverlässig erachtete
Sicherheitsmaßnahme die SS von Nachforschungen auf dem Anwesen des
Bürgermeisters ab.
Ein eher unbekanntes, aber für die Wirren jener Zeit und vor allem für die
Perfidität der unmittelbaren Nachkriegszeit anschauliches Beispiel sind
die Vorgänge rund um die Rettung des Semjon Schakow, der am Hof der
Familie Mascherbauer in Schwertberg eine von mehreren Volkssturmmännern
durchgeführte Suchaktion überlebte, bei der seine zwei Fluchtgefährten
ermordet worden waren. In den kommenden Monaten, die Schakow am Hof blieb,
freundete er sich mit der aus Polen stammenden Magd an, was die
Bauersleute - vor allem in Hinblick auf eine eventuelle und nur mühevoll
zu erklärende Schwangerschaft - zwar nicht gerne sahen, aber geschehen
ließen. Als die Magd an einen Nachbarsbauern abgetreten wurde, vermutete
sie dahinter den gezielten Versuch ihres ehemaligen Dienstherrn, ihre
Beziehung zu Schakow zu zerstören. Kurz nach Kriegsende tauchte auf dem
Hof der Mascherbauers eine Gruppe Männer auf, die sehr unwirsch Butter,
Eier und Fleisch forderte. Diese Männer - ob es, wie sie behaupteten,
tatsächlich Häftlinge des kurz zuvor befreiten Konzentrationslagers oder
nun die Höfe verlassende Ostarbeiter waren, geht aus den Quellen nicht
klar hervor - dürfte wohl die ehemalige Magd geschickt haben, die sich
ungerecht behandelt gefühlt hatte und nun rächen wollte.
Mit den Vorwürfen, dass die Bauersleute auf KZler losgegangen seien und
eine polnische Dienstbotin schlecht behandelt hätten, drohten sie, gleich
selbst die Lebensmittelvorräte wegzuschaffen. Es war ein Glück für die
Familie Mascherbauer, dass der bereits den Hof verlassen habende Semjon
Schakow einen Brief hinterlassen hatte, in dem er sie als jene wenigen
Menschen lobte, die sich während und nach der "Mühlviertler Hasenjagd"
gegenüber den entsprungenen K-Häftlingen äußerst hilfsbereit gezeigt
hatten.
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