Deutsche Verbrechen ---------------------

02.02.1945. "Mühlviertler Hasenjagd"


aus:
Vor 60 Jahren versuchten Häftlinge aus dem KZ Mauthausen zu fliehen / Von Thomas Karny

Mauthausen, Anfang Jänner 1945.
In dem von den Nazis errichteten Konzentrationslager bereiteten Häftlinge etwas Unglaubliches vor: Sämtliche gehfähige Gefangene des Blocks 20 wollen einen Massenausbruch wagen, um dem sicheren KZ-Tod zu entkommen.
Der Block 20 stand zu spezieller Verwendung: Dorthin kamen kranke Häftlinge oder solche, die bald getötet werden sollten, deshalb galt er allgemein als "Todesblock". Am 2. März 1944 war von Wilhelm Keitel, dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, der Geheimbefehl zur "Aktion K" erlassen worden. Er ordnete - entgegen dem Völkerrecht - an, russische Offiziere nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, sondern ins KZ Mauthausen zu bringen. "K" stand für "Kugel". Den schnellen Tod durch Erschießen jedoch fand kaum ein Häftling, die meisten verhungerten.
In den zehn Monaten seit Erlass der "Aktion K" waren im Block 20 des KZ Mauthausen 4.000 Mann gestorben.

Die Leiden der Häftlinge

Häftlinge, die erst Anfang des Jahres 1945 ins Lager gekommen waren, erkannten, wie aussichtslos es war, auf die Befreiung zu warten. 600 Männer mussten in einer für nur halb so viele Personen geplanten Baracke Platz finden. Vom Lager selbst war der Block 20 durch eine Mauer, auf der ein 380-Volt-Stacheldraht lief, getrennt. Ein MG-Posten auf einem Wachturm sicherte nachts den Block. Tagsüber hatten die Häftlinge im Blockvorhof stramm zu stehen oder die schikanösen SS-Anweisungen zu "Leibesübungen" zu befolgen. Im gehockten Gänsemarsch wurden sie durch den Vorhof getrieben, bis die Schwächsten umkippten, vor Erschöpfung nicht mehr aufstehen konnten und von den SS-Aufsehern erschossen oder zu Tode getreten wurden.
K-Häftlinge wurden nicht zur Arbeit herangezogen, weil die Lagerleitung befürchtete, dass sich ihnen hierbei Fluchtmöglichkeiten bieten könnten. Außerdem sollte der Kontakt zu anderen Gefangenen verhindert werden. Nachts schliefen die Gefangenen in der von Möbeln vollgeräumten Baracke am Fußboden, auf Grund des geringen Platzes in Sardinenlage, Kopf an Fuß. In der kalten Jahreszeit wurde der Fußboden manchmal mit Wasser ausgespritzt, am nächsten Morgen hatte mancher eine Lungenentzündung, der er wenige Tage später erlag. Die von der Lagerleitung vorgegebene Tagesnorm, die unbedingt zu erfüllen war, lag bei zehn Toten. Allein aufgrund der unzureichenden Nahrungsversorgung - nur alle drei Tage eine dünne Steckrübensuppe - überlebten die Gefangenen nur wenige Wochen. Auch wenn alliierte Truppen im Westen bereits die deutsche Grenze überschritten hatten und die Rote Armee schon vor Budapest stand, würde doch zu viel Zeit vergehen, um die Befreiung zu erleben. Und darauf zu hoffen war im Grunde illusorisch, weil die K-Häftlinge damit rechnen mussten, vor Ankunft ihrer Befreier von der SS erschossen zu werden.

Die Todgeweihten entschlossen sich deshalb zur Flucht. In der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1945 gelang 419 Häftlingen der Ausbruch aus dem Block 20. Seitens der Kommandantur des KZ Mauthausen wurde befohlen, dass jedermann - also SS, SA, HJ, Gendarmerie, Volkssturm und Zivilbevölkerung - sich an der Verfolgung der Ausgebrochenen zu beteiligen hatten. Am 2. Februar 1945 um 0.50 Uhr begann die "Mühlviertler Hasenjagd", wie die SS die Einholung der Gefangenen bezeichnete.
In den frühen Morgenstunden jenes Tages, es war Maria Lichtmess, wurde im Mühlviertel öffentlich zum Morden aufgerufen und die Mobilmachung des allerletzten Aufgebots betrieben. Alte Männer wurden aus den Betten geholt, wenige nur konnten sich mit dem Hinweis auf ein schweres körperliches Leiden oder stark verminderte Sehkraft dem Volkssturm entziehen. Junge Buben bekamen ein Gewehr in die Hand gedrückt und sollten Haus, Hof und Familie gegen die marodierenden und angeblich höchst gefährlichen KZ-Ausbrecher schützen. In Mauthausen, Schwertberg, Haid, Ried in der Riedmark, Pregarten, Tragwein und in den umliegenden Wäldern hetzten die Einheimischen die Flüchtlinge zu Tode, Bauern, Fleischhacker, Beamte und Gewerbetreibende ermordeten ausgehungerte, abgemagerte, körperlich extrem geschwächte und unbewaffnete russische Offiziere. Die Leichen wurden von der SS zu Sammelstellen geschafft, wo sie gestapelt und manchmal mehrere Tage zur Abschreckung liegen gelassen wurden.
Innerhalb der ersten 24 Stunden sind 300 Flüchtige aufgegriffen und ermordet worden. Teils aus freiem Willen, teils eingeschüchtert durch die Drohungen der SS, der Ortsgruppenleiter und des KZ-Kommandanten Franz Ziereis, der von Ort zu Ort raste, die Teilnahme an der Menschenhatz anordnete und "Drückebergern" sowie allen, die den Flüchtigen in irgendeiner Weise Hilfe oder gar Schutz zukommen ließen, die Verschickung ins Lager in Aussicht stellte, nahmen Teile der Zivilbevölkerung an der Verfolgung teil.
Man denunzierte oder legte selbst Hand an: Ein Bauer erschlug einen Flüchtigen mit einem Sauschlegel. Ein Volkssturmmann jagte einem Entsprungenen zunächst eine Ladung Zwölferschrot in den Rücken und tötete ihn anschließend mit heftigen Tritten gegen den Kopf. Ein Fleischer ertappte einen Häftling bei der Suche nach Essen und stach ihn ab. Ein Gemischtwarenhändler drang, mit einem Gewehr bewaffnet, in den Gemeindekotter ein und richtete unter den dort verwahrten K-Häftlingen ein Blutbad an. Ein Versicherungsangestellter liquidierte während seines Fronturlaubes etwa zwanzig verwundete Häftlinge durch Genickschuss, seine Hoffnung jedoch, dadurch zum Offizier befördert zu werden, erfüllte sich nicht. Ein hoher Beamter der Gauverwaltung brüstete sich nach der Rückkehr auf seinen Arbeitsplatz ob seines mörderischen Einsatzes. HJ-Buben wurden von SS-Angehörigen gezwungen, aufgegriffene Entsprungene zu erschießen. Der Jugendliche Karl Buchberger kostete die blindwütige Schießerei das Leben, weil ihn ein SS-Mann für einen flüchtigen Russen hielt. Beispiele der Grausamkeit, denen zahlreiche weitere hinzugefügt werden könnten.

Menschen mit Courage

Doch wurden in all dieser Bestialität auch mutige Zeichen der Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe gesetzt. Kübel mit gekochten Erdäpfeln und warmer Milch, die vor die Häuser gestellt wurden. Gewand, das mancherorts auf die Wäscheleine gehängt wurde, damit die Häftlinge Zivilkleidung fänden. Kühe, die von den Bauern in den Schnee hinausgetrieben wurden, um die Fußspuren der Flüchtenden zu zerstören. Volkssturmmänner, die wegsahen, wenn ihnen wieder einige von diesen ausgemergelten Gestalten vor die Flinte liefen. Die Gendarmen von Schwertberg und Mauthausen, in deren Rayons zwar die meisten Häftlinge aufgegriffen wurden, die sich selbst jedoch aus der aktiven Verfolgung heraushielten. Und schließlich jene, die der Courage Namen und Gesicht gaben. Etwa die Familie Langthaler, die auf ihrem Hof in der Nähe von Schwertberg Nikolai Zemkalo und Michael Rjabschtinskij bis zum Kriegsende versteckten und dafür später sowohl von Österreich als auch von der Sowjetunion offiziell geehrt wurden. Oder das Ehepaar Huber in Holzleiten, das den Ostarbeiter Leonid Schaschera nie danach fragte, wofür er die regelmäßig abgezweigten größeren Essensrationen verwendete.
Vielleicht wollte man es auch gar nicht wissen, dass damit drei Russen durchgefüttert wurden, die ausgerechnet im Hof des Bürgermeisters untergeschlüpft waren und dabei doppeltes Glück hatten. Zum einen gelangten sie trotz regelmäßiger Kontrollgänge der Gendarmerie unbemerkt in das Gehöft, zum anderen hielt genau diese als zuverlässig erachtete Sicherheitsmaßnahme die SS von Nachforschungen auf dem Anwesen des Bürgermeisters ab.

Ein eher unbekanntes, aber für die Wirren jener Zeit und vor allem für die Perfidität der unmittelbaren Nachkriegszeit anschauliches Beispiel sind die Vorgänge rund um die Rettung des Semjon Schakow, der am Hof der Familie Mascherbauer in Schwertberg eine von mehreren Volkssturmmännern durchgeführte Suchaktion überlebte, bei der seine zwei Fluchtgefährten ermordet worden waren. In den kommenden Monaten, die Schakow am Hof blieb, freundete er sich mit der aus Polen stammenden Magd an, was die Bauersleute - vor allem in Hinblick auf eine eventuelle und nur mühevoll zu erklärende Schwangerschaft - zwar nicht gerne sahen, aber geschehen ließen. Als die Magd an einen Nachbarsbauern abgetreten wurde, vermutete sie dahinter den gezielten Versuch ihres ehemaligen Dienstherrn, ihre Beziehung zu Schakow zu zerstören. Kurz nach Kriegsende tauchte auf dem Hof der Mascherbauers eine Gruppe Männer auf, die sehr unwirsch Butter, Eier und Fleisch forderte. Diese Männer - ob es, wie sie behaupteten, tatsächlich Häftlinge des kurz zuvor befreiten Konzentrationslagers oder nun die Höfe verlassende Ostarbeiter waren, geht aus den Quellen nicht klar hervor - dürfte wohl die ehemalige Magd geschickt haben, die sich ungerecht behandelt gefühlt hatte und nun rächen wollte.
Mit den Vorwürfen, dass die Bauersleute auf KZler losgegangen seien und eine polnische Dienstbotin schlecht behandelt hätten, drohten sie, gleich selbst die Lebensmittelvorräte wegzuschaffen. Es war ein Glück für die Familie Mascherbauer, dass der bereits den Hof verlassen habende Semjon Schakow einen Brief hinterlassen hatte, in dem er sie als jene wenigen Menschen lobte, die sich während und nach der "Mühlviertler Hasenjagd" gegenüber den entsprungenen K-Häftlingen äußerst hilfsbereit gezeigt hatten.
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aus.
Wiener Zeitung v. 28.01.2005

siehe auch:
Thomas Karny, Die Hatz. Bilder zur Mühlviertler "Hasenjagd" (Grünbach 1992)

"Hasenjagd. Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen. Spielfilm. Drehbuch, Regie: Andreas Gruber. Deutschland, Österreich, Luxemburg, 1994

Dokumentation, "Aktion K" von Bernhard Bamberger, 1994