Deutsche Verbrechen --------------------

13.02.1945. "Während die Stadt weinte, jubelten wir"
 

 

Auszüge aus dem Tagebuch von Victor Klemperer,
13.Februar 1945:

Gestern Nachmittag ließ mich Neumark hinüberrufen; ich müßte heute vormittag beim Austragen von Briefen behilflich sein. Ich nahm das ahnungslos hin. Abends war Berger eine Weile bei mir oben, ich erzählte es ihm. und er sagte geärgert, das werde um Schanzarbeit gehen. Noch immer erfaßte ich nicht die Schwere der Bedrohung. Um acht Uhr war ich dann heute bei Neumark. Frau Jährig kam weinend aus seinem Zimmer. Dann sagte er mir: Evakuation für alle Einsatzfähigen, es nennt sich auswärtiger Arbeitseinsatz, ich selber als Entpflichteter bliebe hier. Ich: Also für mich sicherer das Ende als für die Herausgehenden. Er: Das sei nicht gesagt, im Gegenteil gelte das Hierbleiben als Vergünstigung; es bleibe ein Mann, dem zwei Söhne im ersten Weltkrieg gefallen, ferner er, Neumark, weiter Katz (wohl als EK-I-Träger, nicht als Arzt, denn Simon kommt fort), Waldmann und ein paar Schwerkranke und Entpflichtete. Mein Herz streikte in der ersten Viertelstunde vollkommen, später war ich dann vollkommen stumpf, d. h., ich beobachtete für mein Tagebuch. Das auszutragende Rundschreiben besagte, man habe sich am Freitag früh im Arbeitsanzug mit Handgepäck, das eine längere Strecke zu tragen sei, und mit Proviant für zwei bis drei Reisetage in der Zeughausstraße 3 einzufinden. Vermögens-, Möbel-etc. Beschlagnahme findet diesmal nicht statt, das ganze ist ausdrücklich nur auswärtiger Arbeitseinsatz - wird aber durchweg als Marsch in den Tod aufgefaßt.
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Bei Neumark war das ganze Büro mit Deportanden besetzt, ich reichte Paul Lang, Rieger, Lewinsky die Hand - "Sie kommen auch mit? Nein?", da war schon eine Kluft zwischen uns. Ich ging einen Augenblick zu Eisenmanns hinauf, die ganze Familie versammelte sich - schwerst verstört. Ich ging zu Waldmann, der hierbleibt. Er entwickelte mit sehr großer Bestimmtheit die düsterste Annahme. Weswegen nimmt man die jüdischen Kinder mit? Lisl Eisenmann ist doch kein Arbeitseinsatz. Weswegen muß Ulla Jacobi allein mit - ihr Vater gilt als Friedhofsverwalter noch für unabkömmlich. Da stecken Mordabsichten dahinter. Und wir Zurückbleibenden, "wir haben nichts als eine Galgenfrist von etwa acht Tagen. Dann holt man uns früh um sechs aus den Betten. Und es geht uns genauso wie den andern." Ich warf ein: Warum man einen so kleinen Rest hierlasse? Und das jetzt, wo man zeitbedrängt sei? Er: "Sie werden sehen, ich behalte recht."
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Wir setzten uns am Dienstag abend gegen halb zehn zum Kaffee, sehr abgekämpft und bedrückt, denn tagüber war ich ja als Hiobsbote herumgelaufen, und abends hatte mir Waldmann aufs bestimmteste versichert (aus Erfahrung und neuerdings aufgeschnappten Äußerungen), daß die am Freitag zu Deportierenden in den Tod geschickt ("auf ein Nebengleis geschoben") würden, und daß wir Zurückbleibenden acht Tage später ebenso beseitigt werden würden - da kam Vollalarm. "Wenn sie doch alles zerschmissen!" sagte erbittert Frau Stühler, die den ganzen Tag herumgejagt war, und offenbar vergeblich, um ihren Jungen freizubekommen. - Wäre es nun bei diesem ersten Angriff geblieben, er hätte sich mir als der bisher schrecklichste eingeprägt, während er sich jetzt, von der späteren Katastrophe überlagert, schon zu allgemeinem Umriß verwischt. Man hörte sehr bald das immer tiefere und lautere Summen nahender Geschwader, das Licht ging aus, ein Krachen in der Nähe.
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Die Straße war taghell und fast leer, es brannte, der Sturm blies wie vorher. Vor der Mauer zwischen den beiden Zeughausstraßen-Häusern (der Mauer des einstigen Synagogenhofes mit den Baracken dahinter) stand wie gewöhnlich ein Stahlhelmposten. Ich fragte im Vorbeigehen, ob Alarm sei. - "Ja." - Eva war zwei Schritte vor mir. Wir kamen in den Hausflur der Nr. 3. Indem ein schwerer naher Einschlag. Ich drückte mich kniend an die Wand in der Nähe der Hoftür. Als ich aufsah, war Eva verschwunden, ich glaubte sie in unserem Keller. Es war ruhig, ich stürzte über den Hof in unsern Judenkeller. Die Tür klaffte. Eine Gruppe Leute kauerte wimmernd rechts der Tür, ich kniete links dicht am Fenster. Ich rief mehrmals nach Eva. Keine Antwort. Schwere Einschläge. Wieder sprang das Fenster an der Wand gegenüber auf. Wieder Taghelle, wieder wurde gespritzt. Dann ein Schlag am Fenster neben mir. etwas schlug heftig und glutheiß an meine rechte Gesichtsseite. Ich griff hin, die Hand war voller Blut, ich tastete das Auge ab, es war noch da. Eine Gruppe Russen - wo kamen sie her? - drängte zur Tür hinaus. Ich sprang zu ihnen. Den Rucksack hatte ich auf dem Rücken, die graue Tasche mit unseren Manuskripten und Evas Schmuck in der Hand, der alte Hut war mir entfallen. Ich stolperte und fiel. Ein Russe hob mich auf. Seitlich war eine Wölbung, weiß Gott, welcher schon halb zerstörte Keller. Da drängte man herein. Es war heiß. Die Russen liefen in irgendeiner andern Richtung weiter, ich mit ihnen.
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Ein andermal kam ein junger Mensch an mich heran, der sich die Hosen festhielt. In gebrochenem Deutsch: Holländer, gefangen (daher ohne Hosenträger) im PPD. "Ausgerissen - die andern verbrennen im Gefängnis."
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Wir standen noch nach der ersten Begrüßung zusammen, da tauchte Eisenmann mit Schorschi auf. Seine andern Angehörigen hatte er nicht gefunden. Er war so herunter, daß er zu weinen anfing: "Gleich wird das Kind Frühstück verlangen - was soll ich ihm geben?" Dann faßte er sich. Wir müßten unsre Leute zu treffen versuchen, ich müßte den Stern entfernen, so wie er den seinen schon abgemacht hätte. Darauf riß Eva mit einem Taschenmesserchen die Stella von meinem Mantel. Dann schlug Eisenmann vor, zum jüdischen Friedhof zu gehen. Der würde unversehrt sein und Treffpunkt bilden. Er zog voran, wir verloren ihn bald aus den Augen, und seitdem blieb er für uns verschwunden.


aus:
Rettendes Inferno
Frankfurter Rundschau, 14.Februar 2005


An jenem Dienstag im Februar 1945 war das gute Leben längst Vergangenheit und die Gegenwart, das waren Tage, einer wie der andere, angefüllt mit Angst und Hoffnungslosigkeit. Die Nazis hatten ihrem Vater gedroht, er solle sich von seiner jüdischen Frau trennen. Er hatte nicht eingewilligt. Sie hatten ihn ruiniert, ihm das Kino genommen. Freunde, Verwandte, Bekannte waren in Konzentrationslager deportiert worden oder hatten sich aus Verzweiflung das Leben genommen. 1938 brannte Sempers berühmte Dresdner Synagoge. Juden wurden systematisch entrechtet, sie mussten den gelben Stern tragen und durften nicht mehr mit der Straßenbahn fahren. Etliche Parks durfte die junge Henny schon lange nicht mehr betreten, geschweige denn sich auf eine Bank setzen oder in ein Kino gehen. „Damals endete meine Kindheit", sagt Henny Brenner.
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Die Bombennacht, die große Teile Dresdens zerstört und Tausende Menschen das Leben kostet, sie wird zur Rettung der Familie Wolf und etlicher anderer Juden. Eine Brandbombe trifft ihr Haus, alle flüchten aus dem Keller, der Vater rennt noch einmal in die Wohnung, rafft Dokumente zusammen. Henny Wolf und ihre Mutter reißen sich die Judensterne von der Kleidung, verstecken sie in den Schuhen. Dann laufen sie los, wie viele andere Richtung Elbwiesen. „Ich wollte nur Luft, Luft, Luft", erinnert sich Henny Wolf. Zweiter Luftangriff gegen ein Uhr nachts, sie verstecken sich in einem Luftschutzkeller. Ihr Vater beruhigt Frauen und Kinder: „Bewahren Sie Gottvertrauen." Sie laufen weiter. Der Vater will Richtung Hauptbahnhof, dahinter liegt das Gestapo-Hauptquartier. Er will es brennen sehen. Aber die Stadt ist voll Flüchtender, kein Durchkommen. Irgendwann mitten in der Nacht in einer engen Gasse erfasst der Sog des Feuers die Menschen. „Meine Mutter schwebte plötzlich. Wir hielten liefen uns alle an den Händen." Dann will der Vater in die Neustadt, sehen, ob sein altes Kino noch steht, umher, aber es ist kein Durchkommen.
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Das ist die Geschichte ihrer Rettung. Und wenn sie sich heute an jene Nacht erinnert, dann fragt sie sich: „Was alles musste passiert sein, dass ein Mensch im Angesicht des verheerendsten Untergangs, den eine deutsche Stadt je erlebte, innerlich aufatmen konnte?" Sie hat ihre Geschichte aufgeschrieben in einem kleinen Buch: „Das Lied ist aus." Darin heißt es: „Während die ganze Stadt weinte, jubelten wir."
Henny Brenner, geborene Wolf, ist heute 80. Eine zierliche und muntere Dame. Sie lebt in Bayern. Die letzten drei Kriegsmonate verbarg sie sich mit ihren Eltern. Sie sagt, das seien die schlimmsten Monate gewesen. Nach der Befreiung blieben sie in Dresden, 1952 flohen sie aus der DDR nach Westberlin.
Vor ein paar Wochen war sie wieder in Dresden. Ein Treffen von Zeitzeugen des damaligen Dresdner Infernos. Das ZDF hatte sie eingeladen. Unter den alten Herrschaften, die sich in den unteren Räumen der Frauenkirche versammelt hatten, waren auch englische Bomberpiloten. Plötzlich stand einer von ihnen hinter Henny Brenners Stuhl. „Sie haben mir das Leben gerettet", sagte sie zu ihm.