02.01.1942. "Operativbericht Nr. 150"

<<

02.01.1942. "Operativbericht Nr. 150"
 

Im Operativbereicht Nr. 150 (vom 2. Januar 1942) des SD und der Sicherheitspolizei hieß es:
"Simforopol, Jewpatoria, Aluschka, Karassubasar, Kertsch und Feodossija, aber auch andere besiedelte Gebiete der Westkrim sind judenfrei. Vom 16. November - 25. Dezember (1941) wurden 17646 Juden, 2604 Krimschaken, 814 Zigeuner sowie 212 Kommunisten und Partisanen erschossen. Insgesamt sind 75881 Personen hingerichtet worden."



Wie Doktor Fidelew ermordet wurde

Vor 50 Jahren kam der junge Arzt B. N. Fidelew auf die Krim und ließ sich in der Hafenstadt Feodossija nieder. Er war Spezialist für Kinderkrankheiten, doch das Schicksal entschied anders. Ein Dampfer aus Jaffa brachte die Pest nach Feodossija, wo sie sich unsichtbar in den Winkeln des Hafens einnistete. Der Hafen wurde abgeriegelt, und alle Kranken sowie Leute, die mit ihnen in Berührung gekommen waren, wurden in die Quarantänezone gebracht; das war ein von einer hohen Mauer umgebenes Gebiet am Ufer des Meeres, in dem man seit Menschengedenken die an Pest und Cholera Erkrankten zu isolieren pflegte. Doktor Fidelew ging freiwillig an diesen düsteren Ort mit seinen steinernen Baracken, seinem mit Kalk bestreuten Friedhof und seinen Laboratorien: Sie waren das Stabsquartier für jene, die im Kampf gegen diese schreckliche Krankheit standen... Fidelew war drei Monate in Quarantäne, und um ihn herum starben viele Menschen. Doch nicht wenige Kranke verdankten ihr Leben der sachkundigen und aufopferungsvollen Pflege des jungen Arztes. Doktor Fidelew wurde Epidemologe, und dank seiner Bemühungen wurde die Quarantänezone von Feodossija rekonstruiert und zu einer der besten medizinischen Einrichtungen der Häfen des Schwarzen und des Mittelmeeres ausgebaut...
Tief überzeugt von der Heilkraft der Meeresluft und der Sonnenstrahlung auf der Krim, setzte Fidelew den Bau eines neuen städtischen Krankenhauses außerhalb der Stadt durch. Die Fenster der großen, hellen Krankenzimmer blickten aufs Meer. Das Gebäude war von Blumenbeeten und Rasen umgeben. Mit den Jahren wuchsen Akazien, Pappeln und Zypressen heran...
Zu Beginn des faschistischen Krieges war Doktor Fidelew Chefarzt des Städtischen Krankenhauses von Feodossija. Schon bald füllten sich seine Krankenzimmer mit Patienten, die bei der Bombardierung der nahen Siedlungen verwundet worden waren. Feodossija selbst war erfüllt vom Geheul der Sirenen, dem Dröhnen der Flakgeschütze und den Bombenexplosionen.
Als sich die Deutschen Perekop näherten, riet man Doktor Fidelew, sich evakuieren zu lassen.
"Ich bin noch nie desertiert", antwortete er, "und Hunderte von Kranken in der Stunde der Gefahr ihrem Schicksal zu überlassen, heißt zu desertieren."
Drei Tage, nachdem die Deutschen Feodossija erobert hatten, erließen sie den Befehl, daß sich alle Juden im städtischen Gefängnis einzufinden hatten, um "nach Norden ausgesiedelt zu werden". Die Wohnungen sollten unversehrt verlassen werden, man durfte lediglich Wäsche zum Wechseln, einen Mantel und Verpflegung für einige Tage mitnehmen.
Auch Doktor Fidelew und seine Frau begaben sich zum Gefängnis. Nach Überprüfung der Personalien wurde dem Doktor jedoch anheimgestellt, nach Hause zurückzukehren...
Am Abend kam der alte Schlosser der Quarantäneabteilung Tschishikow heimlich zu Fidelew.
"Die Deutschen wollen in der Quarantäne die Desinfektionskammern wieder in Gang setzen", sagte er, "doch sie schaffen es nicht. Sie haben keine Zeichnungen, und ein Teil der Einrichtung ist demontiert. Irgend jemand hat sie auf Sie aufmerksam gemacht. Doch mir scheint, daß sie die Kammern nicht zu Desinfektionszwecken wieder herrichten wollen... Als sie einen Probelauf machten, habe ich gesehen, daß sie Isaak Nudelman dort eingesperrt hatten. Später haben sie ihn, er war tot, ins Meer geworfen...»
Die Deutschen forderten Fidelew tatsächlich auf, die Desinfektionskammern wieder in Gang zu setzen.
"Wir wollen ihre Artgenossen vor dem Abtransport desinfizieren", erklärten sie ihm.
"Ich sage dazu nein", antwortete der Doktor.
Sie verhafteten ihn und seine Frau und führten beide durch die Hauptstraße der Stadt. Irgendein rumänischer Soldat riß dem Arzt die Pelzmütze vom Kopf. Der Herbstwind zerzauste das schüttere Haar des alten Mannes. Die ihm entgegenkommenden Passanten - in Feodossija gab es niemanden, der Fidelew nicht kannte - zogen schweigend ihre Kopfbedeckungen, denn sie ahnten, wohin man die beiden Alten führte. Sie gingen vorbei an dem Ambulatorium, das den Namen Doktor Fidelews trug, vorbei an der Krankenstube der Tabakfabrik, die dank seiner Bemühungen eingerichtet worden war, vorbei an den Kinderkrippen, die seiner Aufsicht unterstanden hatten.
Die Verhafteten wurden nicht ins Gefängnis gebracht, man sperrte sie in einen der Keller der ehemaligen Poliklinik. Die Deutschen wandten gegenüber dem alten Arzt die brutalsten Foltermethoden an, doch Fidelew weigerte sich hartnackig, den Deutschen zu helfen. Nach einigen Tagen fesselten sie den Doktor und seine Frau mit einem Telefonkabel aneinander und warfen sie in eine Abwassergrube auf dem Hof der Poliklinik, in die angestautes Grundwasser aus den Kellern geleitet wurde. In dieser geräumigen Grube erreichte der Wasserstand erst die Höhe eines erwachsenen Menschen, wenn die Motorpumpe acht Stunden ununterbrochen gelaufen war. Die Reinemachefrau der Poliklinik, die im Nachbarhaus wohnte, hat durch eine Ritze im Schuppen beobachtet, wie die Deutschen die beiden gefesselten Alten in die Grube stießen. Sie hat gehört, wie die Elektropumpe die ganze Nacht über quietschend und schnaufend schmutziges Wasser dort hineingeleitet hat...
Doktor Fidelew ertrank in dem schmutzigen Schlamm, der die Grube füllte. Er hat sein ganzes Leben dem Kampf gegen die Feinde des Menschen -  die Krankheiten -  gewidmet, und er ist auch nicht davongelaufen, als es galt, nicht nur der Lungen- oder Beulenpest, sondern auch ihrer neuesten Abart, der "braunen" Pest, die Stirn zu bieten.
Die Deutschen auf der Krim wurden vernichtend geschlagen und ins Meer gejagt, und in der Stadt hat die Poliklinik, die Doktor Fidelews Namen trägt, ihre Arbeit wieder aufgenommen...

Nach einem Bericht von A. MOROSOW
Zum Druck vorbereitet von A. DERMAN

aus.
Wassili Grossmann, Ilja Ehrenburg (Herausgeber)
Das Schwarzbuch, Der Genozid an den sowjetischen Juden
(in deutscher Sprache herausgegeben von Arno Lustiger), 1994