Wie Doktor Fidelew ermordet wurde
Vor 50 Jahren kam der junge Arzt B. N. Fidelew auf die Krim und ließ sich
in der Hafenstadt Feodossija nieder. Er war Spezialist für
Kinderkrankheiten, doch das Schicksal entschied anders. Ein Dampfer aus
Jaffa brachte die Pest nach Feodossija, wo sie sich unsichtbar in den
Winkeln des Hafens einnistete. Der Hafen wurde abgeriegelt, und alle
Kranken sowie Leute, die mit ihnen in Berührung gekommen waren, wurden in
die Quarantänezone gebracht; das war ein von einer hohen Mauer umgebenes
Gebiet am Ufer des Meeres, in dem man seit Menschengedenken die an Pest
und Cholera Erkrankten zu isolieren pflegte. Doktor Fidelew ging
freiwillig an diesen düsteren Ort mit seinen steinernen Baracken, seinem
mit Kalk bestreuten Friedhof und seinen Laboratorien: Sie waren das
Stabsquartier für jene, die im Kampf gegen diese schreckliche Krankheit
standen... Fidelew war drei Monate in Quarantäne, und um ihn herum starben
viele Menschen. Doch nicht wenige Kranke verdankten ihr Leben der
sachkundigen und aufopferungsvollen Pflege des jungen Arztes. Doktor
Fidelew wurde Epidemologe, und dank seiner Bemühungen wurde die
Quarantänezone von Feodossija rekonstruiert und zu einer der besten
medizinischen Einrichtungen der Häfen des Schwarzen und des Mittelmeeres
ausgebaut...
Tief überzeugt von der Heilkraft der Meeresluft und der Sonnenstrahlung
auf der Krim, setzte Fidelew den Bau eines neuen städtischen Krankenhauses
außerhalb der Stadt durch. Die Fenster der großen, hellen Krankenzimmer
blickten aufs Meer. Das Gebäude war von Blumenbeeten und Rasen umgeben.
Mit den Jahren wuchsen Akazien, Pappeln und Zypressen heran...
Zu Beginn des faschistischen Krieges war Doktor Fidelew Chefarzt des
Städtischen Krankenhauses von Feodossija. Schon bald füllten sich seine
Krankenzimmer mit Patienten, die bei der Bombardierung der nahen
Siedlungen verwundet worden waren. Feodossija selbst war erfüllt vom
Geheul der Sirenen, dem Dröhnen der Flakgeschütze und den
Bombenexplosionen.
Als sich die Deutschen Perekop näherten, riet man Doktor Fidelew, sich
evakuieren zu lassen.
"Ich bin noch nie desertiert", antwortete er, "und Hunderte von Kranken in
der Stunde der Gefahr ihrem Schicksal zu überlassen, heißt zu
desertieren."
Drei Tage, nachdem die Deutschen Feodossija erobert hatten, erließen sie
den Befehl, daß sich alle Juden im städtischen Gefängnis einzufinden
hatten, um "nach Norden ausgesiedelt zu werden". Die Wohnungen sollten
unversehrt verlassen werden, man durfte lediglich Wäsche zum Wechseln,
einen Mantel und Verpflegung für einige Tage mitnehmen.
Auch Doktor Fidelew und seine Frau begaben sich zum Gefängnis. Nach
Überprüfung der Personalien wurde dem Doktor jedoch anheimgestellt, nach
Hause zurückzukehren...
Am Abend kam der alte Schlosser der Quarantäneabteilung Tschishikow
heimlich zu Fidelew.
"Die Deutschen wollen in der Quarantäne die Desinfektionskammern wieder in
Gang setzen", sagte er, "doch sie schaffen es nicht. Sie haben keine
Zeichnungen, und ein Teil der Einrichtung ist demontiert. Irgend jemand
hat sie auf Sie aufmerksam gemacht. Doch mir scheint, daß sie die Kammern
nicht zu Desinfektionszwecken wieder herrichten wollen... Als sie einen
Probelauf machten, habe ich gesehen, daß sie Isaak Nudelman dort
eingesperrt hatten. Später haben sie ihn, er war tot, ins Meer
geworfen...»
Die Deutschen forderten Fidelew tatsächlich auf, die Desinfektionskammern
wieder in Gang zu setzen.
"Wir wollen ihre Artgenossen vor dem Abtransport desinfizieren", erklärten
sie ihm.
"Ich sage dazu nein", antwortete der Doktor.
Sie verhafteten ihn und seine Frau und führten beide durch die Hauptstraße
der Stadt. Irgendein rumänischer Soldat riß dem Arzt die Pelzmütze vom
Kopf. Der Herbstwind zerzauste das schüttere Haar des alten Mannes. Die
ihm entgegenkommenden Passanten - in Feodossija gab es niemanden, der
Fidelew nicht kannte - zogen schweigend ihre Kopfbedeckungen, denn sie
ahnten, wohin man die beiden Alten führte. Sie gingen vorbei an dem
Ambulatorium, das den Namen Doktor Fidelews trug, vorbei an der
Krankenstube der Tabakfabrik, die dank seiner Bemühungen eingerichtet
worden war, vorbei an den Kinderkrippen, die seiner Aufsicht unterstanden
hatten.
Die Verhafteten wurden nicht ins Gefängnis gebracht, man sperrte sie in
einen der Keller der ehemaligen Poliklinik. Die Deutschen wandten
gegenüber dem alten Arzt die brutalsten Foltermethoden an, doch Fidelew
weigerte sich hartnackig, den Deutschen zu helfen. Nach einigen Tagen
fesselten sie den Doktor und seine Frau mit einem Telefonkabel aneinander
und warfen sie in eine Abwassergrube auf dem Hof der Poliklinik, in die
angestautes Grundwasser aus den Kellern geleitet wurde. In dieser
geräumigen Grube erreichte der Wasserstand erst die Höhe eines erwachsenen
Menschen, wenn die Motorpumpe acht Stunden ununterbrochen gelaufen war.
Die Reinemachefrau der Poliklinik, die im Nachbarhaus wohnte, hat durch
eine Ritze im Schuppen beobachtet, wie die Deutschen die beiden
gefesselten Alten in die Grube stießen. Sie hat gehört, wie die
Elektropumpe die ganze Nacht über quietschend und schnaufend schmutziges
Wasser dort hineingeleitet hat...
Doktor Fidelew ertrank in dem schmutzigen Schlamm, der die Grube füllte.
Er hat sein ganzes Leben dem Kampf gegen die Feinde des Menschen -
die Krankheiten - gewidmet, und er ist auch nicht davongelaufen, als
es galt, nicht nur der Lungen- oder Beulenpest, sondern auch ihrer
neuesten Abart, der "braunen" Pest, die Stirn zu bieten.
Die Deutschen auf der Krim wurden vernichtend geschlagen und ins Meer
gejagt, und in der Stadt hat die Poliklinik, die Doktor Fidelews Namen
trägt, ihre Arbeit wieder aufgenommen...
Nach einem Bericht von A. MOROSOW
Zum Druck vorbereitet von A. DERMAN
aus.
Wassili Grossmann, Ilja Ehrenburg (Herausgeber)
Das Schwarzbuch, Der Genozid an den sowjetischen Juden
(in deutscher Sprache herausgegeben von Arno Lustiger), 1994 |