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27.06.1941. Deutsche antisemitische Krieger töten in Bialystok

 

Einer der ersten grausamen Mordeinsätze gegen die sowjetischen Juden wurde jedoch von einem anderen Polizeibataillon, dem Bataillon 309, durchgeführt. Es richtete wenige Tage nach Beginn des »Unternehmens Barbarossa« in der Stadt Bialystok ein ungeheures Blutbad an. das hohe symbolische Bedeutung gewinnen sollte.

Die Offiziere und Mannschaften wenigstens einer Kompanie des Bataillons 309 wußten bereits von dem Augenblick an. da sie die sowjetische Grenze überschritten, welche Rolle sie bei der geplanten Vernichtung der sowjetischen Juden spielen sollten.22 Nach dem Einmarsch in Bialystok am 27. Juni 1941, das die Deutschen wie viele andere Städte kampflos erobert hatten, befahl der Bataillonskommandeur, Major Ernst Weis, seinen Männern, das jüdische Viertel zu »durchkämmen« und alle männlichen Bewohner zusammenzutreiben. Obwohl diese Operation letztlich dazu diente, die Juden umzubringen, gab es zu diesem Zeitpunkt über die Art, in der dies zu geschehen habe, noch keinerlei Anweisungen. Das gesamte Bataillon nahm an der Razzia teil, die mit großer Brutalität durchgeführt wurde. Diese Deutschen konnten endlich ohne jede Zurückhaltung über die Juden herfallen. Ein Jude erinnert sich: »Die Einheit war kaum in die Stadt motorisiert eingerückt, als die Soldaten ausschwärmten und überall in der Stadt ohne jeden vernünftigen Anlaß eine große Schießerei veranstalteten, offensichtlich auch, um die Leute zu ängstigen. Es war eine ganz furchtbare Schießerei. Man schoß sogar in die Häuser und Fenster blindlings hinein, ohne Rücksicht darauf, ob dort jemand stand. Die Schießerei ging den ganzen Tag über.«
Die Männer des Bataillons brachen in die Wohnungen von Menschen ein, die sich nicht einmal ansatzweise gewehrt hatten, schleppten sie hinaus, traten sie, schlugen sie mit ihren Gewehrkolben und schossen sie nieder. Die Straßen waren anschließend mit Leichen übersät.
Diese individuell aus eigenem Antrieb begangenen Grausamkeiten und Morde waren unverhältnismäßig und unnötig. Warum kam es also dazu? Die Deutschen selbst schweigen in ihren Aussagen nach dem Krieg zu diesem Punkt. Doch einige Ereignisse sind hier erhellend. Während der Razzia öffnete ein namentlich nicht bekannter Jude seine Tür nur einen Spalt weit, um die sich entwickelnde gefährliche Szene zu beobachten. Ein Leutnant des Bataillons bemerkte den Türschlitz, ergriff die Gelegenheit und erschoß den Juden durch die schmale Öffnung. Um seine Pflicht zu erfüllen, hätte es genügt, den Juden zum Sammelplatz zu bringen. Und dennoch erschoß er ihn. Man kann sich kaum vorstellen, daß dieser Deutsche moralische Bedenken verspürte, als sein Opfer nach dem gezielten Schuß zusammenbrach.
Eine andere Szene: Einige Bataillonsangehörige zwangen alte jüdische Männer dazu, vor ihnen zu tanzen. Dieser Anblick bereitete ihnen offenbar Vergnügen, zusätzlich machten sie sich auch noch über die Juden lustig, verunglimpften sie und versicherten sich so ihrer Herrenrolle. Das galt um so mehr, als die ausgewählten Opfer älter waren als die deutschen Männer und ihnen eigentlich Respekt und Achtung zugestanden hätten. Zu ihrem Unglück tanzten die Juden nicht flott genug, so daß die Deutschen ihnen die Bärte anzündeten.

An anderer Stelle, in der Nähe des Judenviertels, fielen zwei verzweifelte Juden vor einem deutschen General auf die Knie und baten um seinen Schutz. Ein Mitglied des Polizeibataillons 309, das diese flehentliche Bitte beobachtete, hielt es für nötig, dies auf seine Weise zu kommentieren: Der Mann öffnete seine Hose und urinierte auf die Knienden. Unter den Deutschen herrschte eine antisemitische Atmosphäre und Praxis, die es ihm erlaubte, sich auf schamlose Weise vor einem General zu entblößen, um auf diese unübertreffliche Art in aller Öffentlichkeit seine Verachtung zu zeigen. Er hatte für seine Verletzung militärischer Disziplin und Etikette keineswegs Bestrafung zu befürchten: weder der General noch sonst jemand versuchte, ihn von seinem Tun abzuhalten.

Und da sind andere aufschlußreiche Einzelheiten: So durchsuchten die Deutschen ein Krankenhaus nach jüdischen Patienten, um diese zu töten. Damit bewiesen sie Begeisterung und Hingabe an ihre Aufgabe, denn sie versuchten Menschen niederzumetzeln, die ganz offensichtlich keine Gefahr darstellten. Es ging ihnen nicht darum, alle Gegner Deutschlands zu töten, sondern ausschließlich um die Ausrottung des in ihrer Einbildung existierenden jüdischen Erzfeindes. Für die verwundeten usbekischen Sowjetsoldaten, die im selben Krankenhaus lagen, interessierten sie sich nicht. Sie wollten allein jüdisches Blut vergießen.

Auf dem Marktplatz in der Nähe der jüdischen Wohnviertel trieben die Männer des Polizeibataillons 309 die Juden zusammen. Im Laufe des Nachmittags erschien ein Wehrmachtsoffizier, der sich über das unkontrollierte Töten von unbewaffneten Zivilisten empörte und sich heftig mit dem Hauptmann stritt, der die erste Kompanie befehligte. Dieser weigerte sich, dem Befehl des Offiziers, die Juden freizulassen, Folge zu leisten, da der Wehrmachtsoffizier über ihn und seine Männer keine Befehlsgewalt besitze. Der Hauptmann hatte seine Befehle und war entschlossen, sie auszuführen. Auf nahe gelegenen Grundstücken begannen die Deutschen mit der Erschießung Hunderter von Juden. Doch das Töten ging ihnen zu langsam vonstatten. Die Angehörigen des Bataillons hatten die Juden schneller zu den Sammelpunkten auf dem Marktplatz und vor der Hauptsynagoge der Stadt geschleppt, als sie die Menschen erschießen konnten. Die Sammelplätze waren rasch überfüllt; auf der Stelle mußte eine andere »Lösung« improvisiert werden.
Die Deutschen, die ja keine präzisen Anweisungen besaßen, handelten nun - wie so oft während des Holocaust - auf eigene Initiative. Die Hauptsynagoge von Bialystok, die größte in Polen, war ein beeindruckender, von einer Kuppel bekrönter quadratischer Steinbau, ein hochaufragendes Symbol jüdischen Lebens. Die Deutschen kamen auf die Idee, die Juden gemeinsam mit ihrer spirituellen und symbolischen Heimat zu vernichten, eine »Lösung«, die ihrem antisemitisch geprägten Denken naheliegend erschien. Das Niederbrennen von Synagogen war bereits, besonders während der Reichspogromnacht, zum Leitmotiv antisemitischen Handelns geworden, und da es sich einmal durchgesetzt hatte, diente es nun erneut als Handlungsanweisung. Die Umwandlung eines Gotteshauses in ein Leichenhaus markierte den symbolischen Beginn eines Feldzugs, von dem diese Männer wußten, daß er mit der Vernichtung der Juden enden sollte.
Die Angehörigen der ersten und der dritten Kompanie des Polizeibataillons 309 trieben ihre Opfer in die Synagoge, wobei die weniger folgsamen von den Deutschen zur »Ermunterung« ausgeteilte Knüppelschläge ertragen mußten. Die Deutschen drängten die Menschen in die riesige Synagoge, bis niemand mehr hineinpaßte. Die verängstigten Juden begannen, religiöse Lieder zu singen und laut zu beten. Die Deutschen verteilten Benzin rund um das Gebäude, und einer warf einen Sprengkörper durch ein Fenster, um das Feuer des Holocaust zu entzünden. Die Gebete der Juden gingen in Schreie über. Ein Mitglied des Bataillons beschrieb später, was er dann beobachtete: »Ich habe ... Qualm gesehen, der aus der Synagoge herauskam, und hörte, wie dort eingesperrte Menschen laut um Hilfe riefen. Ich war etwa 70 Meter von der Synagoge entfernt. Ich konnte das Gebäude sehen und bemerkte, daß Menschen versuchten, aus dem Inneren durch die Fenster zu entkommen. Man hat daraufgeschossen. Um die Synagoge herum standen Polizeiangehörige, die dort offensichtlich absperren sollten, damit keiner herauskam.«
Hundert bis hundertfünfzig Männer des Bataillons riegelten die brennende Synagoge ab. so daß keiner der eingeschlossenen Juden dem Inferno entkommen konnte. Sie schauten zu und hörten die Verzweiflungsschreie von mehr als siebenhundert Menschen, die einen schrecklichen und qualvollen Tod starben. Die meisten der Opfer waren Männer, aber auch Frauen und Kinder befanden sich darunter." Einige der Juden im Inneren des Gebäudes entgingen dem Feuertod, indem sie sich die Pulsadern aufschnitten oder sich erhängten. Mindestens sechs Juden rannten aus der Synagoge, ihre Körper und Kleidung in Flammen. Die Deutschen schössen jeden einzelnen nieder, um dann zu beobachten, wie diese menschlichen Fackeln ausbrannten. Mit welchen Gefühlen betrachteten die Männer des Polizeibataillons 309 diesen Scheiterhaufen, der im Namen des exterminatorischen Credos entzündet worden war? Einer von ihnen rief: »Laß mal brennen, das ist ein schönes Feuerlein, das macht Spaß.« Ein anderer meinte: »Herrlich, die ganze Stadt müßte abbrennen!«
Die Angehörigen dieses Polizeibataillons, von denen viele nicht einmal Berufspolizisten waren, hatten sich für diese Truppe entschieden, um dem regulären Militärdienst zu entgehen. Nun aber wurden sie plötzlich zu »Weltanschauungskriegern«, die an jenem Tag zwischen 2 000 und 2 200 jüdische Männer, Frauen und Kinder umbrachten. Die Art, wie sie die Juden zusammentrieben, die willkürlichen Schläge und Tötungen, die Verwandlung der Straßen von Bialystok in blut- und leichenbedeckte Wege, und die von ihnen improvisierte »Lösung« ihrer Aufgabe in Form einer reinigenden Feuersbrunst sind in der Tat Handlungen von Weltanschauungskriegern oder genauer: von antisemitischen Kriegern. Sie führten einen Befehl aus, gingen sogar schärfer vor als verlangt, handelten ohne Abscheu und Zögern, vielmehr mit offen zur Schau gestelltem Genuß und im Exzeß. Der Major hatte befohlen, die jüdischen Männer zusammenzutreiben, doch wohl wissend, daß Hitler alle sowjetischen Juden zur totalen Vernichtung bestimmt hatte, erweiterten die Bataillonsangehörigen den Befehl eigenmächtig und töteten auch Frauen und Kinder. Diese Deutschen begingen ihre Morde und Brutalitäten vorsätzlich, sie gingen über ihre ausdrücklichen Befehle hinaus. Dabei handelten sie im Sinne des allgemeineren Befehls und dem Geist ihrer Zeit entsprechend. Was die Männer des Polizeibataillons 309 in Bialystok taten, kann als symbolischer Auftakt des befohlenen Völkermords betrachtet werden. Sie waren »gewöhnliche« Deutsche, und als sie Deutschlands »Todfeind« gegenüberstanden, als es in ihrer Hand lag, wie sie mit den Juden umgingen. da schickten sie, mit staatlicher Billigung, viele ihrer Opfer in einen unnötig grausamen Tod durch Verbrennen bei lebendigem Leibe.

aus:
Daniel Jonah Goldhagen
Hitlers willige Vollstrecker, Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, 1998, S. 226 ff.