Gedenken an gerettete Juden
Bulgarien bewahrte im Zweiten Weltkrieg 50 000 Menschen vor der
Deportation
Von Klaus Brill
Mit Gedenkfeiern und Kranzniederlegungen ist am Montag in ganz Bulgarien
an die Rettung der knapp 50 000 bulgarischen Juden vor der Vergasung durch
die Nazis vor 65 Jahren erinnert worden. Zugleich gedachten die
zahlreichen Teilnehmer dieser Veranstaltungen jener mehr als 11 000 Juden,
die damals unter bulgarischer Herrschaft in Mazedonien, Nordgriechenland
und Ostserbien lebten und die im Gegensatz zu den anderen an Deutschland
ausgeliefert wurden. Die Nazis brachten sie in ihr Konzentrationslager
Treblinka im besetzten Polen. Dort wurden sie ermordet.
Veranstalter der Gedenkfeiern, die in der Hauptstadt Sofia ebenso wie in
mehreren Provinzstädten stattfanden, war die jüdische Organisation Shalom.
Ihre Vertreter eröffneten in der nordbulgarischen Stadt Schumen zusammen
mit Repräsentanten aller anderen ethnischen Gruppen im Land eine „Allee
der Toleranz". Anwesend waren auch Bulgaren, Armenier, Roma, Russen und
Türken.
Bulgarien war nach Angaben des renommierten Londoner Holocaust-Forschers
Martin Gilbert das einzige Land Europas, dessen jüdischer
Bevölkerungsanteil 1945 höher lag als vor dem Krieg. Das Land war damals
mit Deutschland verbündet, und zunächst waren nach einem „Gesetz zum
Schütze der Nation" bereits 28 000 Juden aus Sofia aufs Land umgesiedelt
worden. Als die Nazis jedoch für den 10. März 1943 die Deportation aller
Juden ankündigten, erhob sich ein Aufschrei der Empörung im ganzen Land.
Sowohl die geistlichen Führer der orthodoxen Kirche als auch der vormalige
Apostolische Nuntius in Sofia und spätere Papst Johannes XXIII. setzten
sich energisch für die Rettung der Juden ein. Dasselbe tat eine Gruppe von
43 Parlamentsabgeordneten, angeführt vom stellvertretenden
Parlamentspräsidenten Dimitar Peschew, der bei der Rettungsaktion eine
Schlüsselrolle gespielt haben soll und in Sofia mit einer eigenen
Gedenkplakette geehrt wurde. Auf Peschews Intervention hin engagierte sich
auch der
damalige Zar Boris III, der Vater des heutigen bulgarischen Politikers
Simeon von Sachsen-Coburg-Gotha. Die Proteste bewogen die Nazis, die
geplante Aktion abzublasen.
Nordbulgarische Bauern drohten damit, sich auf die Gleise jener Strecken
zu legen, über die die Todeszüge rollen sollten. Der orthodoxe Exarch
Stefan wollte den bedrohten Juden die Kirchen öffnen. Zar Boris wurde
später von Hitler nach Berlin bestellt. Drei Tage nach seiner Rückkehr
starb er auf mysteriöse Weise am 29. August 1943 in Sofia im Alter von 49
Jahren.
(SZ 11.03.2008)
BULGARIEN Bulgarien war 1915 an der
Seite von Deutschland und Österreich-Ungarn in den Ersten Weltkrieg
eingetreten und hatte ihn mit ihnen verloren. So hatte es 1919 im
Friedensvertrag von Neuilly schwere Gebietsverluste hinnehmen müssen. Es
mußte die Süddobrudscha an Rumänien und einige Gebiete in Makedonien an
Jugoslawien abtreten. Ferner verlor es Westthrakien an Griechenland und
damit den Zugang zum Mittelmeer. Seitdem gehörte Bulgarien zu den
revisionistischen Mächten, blieb aber bei Beginn des Zweiten Weltkrieges
zunächst neutral.
Doch als Rumänien im Sommer 1940 unter Druck geriet und Gebiete an die
Sowjetunion und Ungarn abtreten mußte, nutzte Bulgarien die Gelegenheit
aus, verlangte die Rückgabe der Süddobrudscha und erhielt sie im Vertrag
von Craiova vom 7. September 1940. Als dann Deutschland im Frühjahr 1941
den Balkanfeldzug vorbereitete, trat Bulgarien auf dessen Seite. Es schloß
sich am 1. März 1941 dem Dreimächtepakt an, ließ deutsche Truppen ins Land
und erleichterte ihnen so den Einmarsch nach Griechenland und Jugoslawien.
Danach besetzte es selbst Griechisch-Thrakien und Jugoslawisch-Makedonien,
und diese Gebiete wurden ihm dann von Hitler überlassen. Damit hatte
Bulgarien seine territorialen Ziele erreicht. Es beteiligte sich nicht am
Krieg gegen die Sowjetunion, war aber mit Deutschland verbündet, und das
wirkte sich auf das Schicksal der Juden aus.
In Altbulgarien lebten etwa 50000 Juden, was einem Anteil von weniger als
einem Prozent an der Gesamtbevölkerung entsprach. Obwohl die Juden in
Bulgarien seit 1878 volle Gleichberechtigung genossen und der
Antisemitismus stark zurückgegangen war, schloß sich Bulgarien schon 1940
der deutschen Judenpolitik an und erließ am 24. Dezember 1940 ein erstes
antijüdisches Gesetz. Die Juden wurden registriert und verloren viele
ihrer Rechte.
1941 wurden diese Maßnahmen auch auf die neugewonnenen Gebiete ausgedehnt.
Dort lebten in Thrakien etwa 6000 und in Makedonien etwa 8 000 Juden, was
wie in Altbulgarien einem Anteil von weniger als einem Prozent an der
Gesamtbevölkerung entsprach. Diese Juden wurden gleichfalls registriert
und entrechtet, und sie erhielten anders als die übrigen Bewohner nicht
die bulgarische Staatsangehörigkeit.
In Übereinstimmung mit Deutschland verschärfte Bulgarien 1942 seine
Judenpolitik. Im August wurde ein eigenes Kommissariat für Judenfragen
errichtet, dessen Leitung Alexander Belev übernahm, der 1940 nach
Deutschland entsandt worden war, um dort die Judengesetzgebung zu
studieren. Seine Aufgabe war, »die Aussiedlung der Juden in die Provinz
oder außerhalb des Königreiches« vorzubereiten. Im Januar 1943 traf der
deutsche SS-Hauptsturmführer Theodor Dannecker, der zuvor die
Judendeportationen aus Frankreich geleitet hatte, in Sofia ein und
unterzeichnete am 22. Februar mit Judenkommissar Belev eine förmliche
Vereinbarung. Demnach sollten in Kürze 20000 Juden in die deutschen
Ostgebiete, also in die dortigen Vernichtungslager, deportiert werden, und
zwar 8 000 aus Makedonien und je 6 000 aus Thrakien und Altbulgarien.
Als diese Pläne bekannt wurden, kam es Anfang März in der
südwestbulgarischen Stadt Kjustendil, wo, wie auch anderswo, die Juden
bereits interniert worden waren und auf den Abtransport warteten, zu
heftigen Protesten und im Parlament in Sofia zu einer Protestresolution.
Die bulgarische Regierung beschloß daraufhin, die Juden in Altbulgarien
wieder freizulassen und sie im Lande zur Zwangsarbeit einzusetzen.
Deportationen, so ließ sie der deutschen Regierung mitteilen, kämen nur
aus Makedonien und Thrakien in Frage. Tatsächlich wurden dann Ende März
1943 aus diesen Gebieten 11 343 Juden nach Treblinka deportiert, 7122
makedonische mit der Eisenbahn von Skopje aus und 4221 thrakische. Diese
wurden auf der bulgarischen Eisenbahn quer durch Bulgarien nach Lom an der
Donau gebracht, von dort auf Schiffen nach Wien und dann mit der deutschen
Eisenbahn nach Treblinka. Dort wurden sie alle ermordet.
Der bulgarische Fall ist außerordentlich. Einerseits war Bulgarien neben
Vichy-Frankreich und der Slowakei der einzige Staat, der auf deutschen
Wunsch, aber ohne unmittelbaren Zwang und mithin freiwillig Juden an
Deutschland auslieferte. Andererseits war Bulgarien das einzige Land, in
dem eine Protestbewegung der Bevölkerung die Auslieferung wenigstens der
eigenen Juden verhinderte. Zwar wurden diese auch weiterhin verfolgt und
aus Sofia in die Provinz ausgesiedelt, aber sie überlebten. Im Herbst 1943
wurden die antijüdischen Maßnahmen gelockert und im August 1944 überhaupt
aufgehoben. Das zeigt, daß die bulgarische Judenpolitik hauptsächlich aus
Willfährigkeit gegenüber Hitlerdeutschland hervorgegangen war.
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