Ich bin jetzt 66 Jahre alt.
In allen Jahren meines Lebens musste ich immer wieder an die Zeit in der
Heiligen St. Josefspflege und den Abschied von de Kindern denken. Ich kam
nie davon los. Noch immer sehe ich den Bus vor mir, in den die Kleinen
fröhlich einstiegen, die älteren Kinder aber weinend und mit Schlägen
hineingedrängt wurden.
Wer hat schon um diese Kinder geweint? Und um die anderen Kinder, die in
Hitlers Verbrennungsöfen endeten? Ich habe immer wieder um sie weinen
müssen, in all den Jahren. Aber sie werden nicht mehr lebendig von meiner
Trauer. Zurück bleibt die Erinnerung an eine fröhlich spielende
Kinderschar, die von einem schönem Ausflug träumte.
Angela Reinhardt
Der Bericht des Pfarrers
(Auszug aus dem Kirchenbuch des Katholischen Pfarramtes
Mulfingen 1944)
Der 9. Mai 1944 war wohl der "schwärzeste" Tag, den die
St. Josefspflege hier erlebte. Schon längst war das Heim hier sozusagen
degradiert, was aber der Leitung des Heimes und dem Erziehungspersonal
keine Schwierigkeiten bereitete. Dadurch war die braune Hitlerjugend nicht
im Heim vertreten. In der Josefspflege wurden seit längerer Zeit
Zigeunerkinder u. Kinder von Zigeunerähnlichen, Hausierern u. dergl.
aufgenommen. Arische Kinder kamen in andere Häuser u. Heime. Neben der
Verfolgung u. der Vernichtung der Juden traf das Todeslos im Dritten Reich
auch die Zigeuner ... Auf jede Weise wurde durch den gehässigen
Landesjugendarzt Dr. Eyrich in Stuttgart nach dem Stammbaum der Kinder
gefahndet, so wurden im Geheimen aus der Josefspflege 34 Kinder zum
Vernichtungstod ausgesucht. Die Aktion trat am 9. Mai in Bewegung. Wenige
Tage verkündete der hiesige Landjäger, die Kinder kämen in ein Lager. Am
9. Mai fuhr ein großer Autobus vor, aus dem 3 Gendarmen entstiegen, um die
Kinder zu holen. Es war ein Anblick des Erbarmens, wie sie sich im
Speisesaal mit ihren wenigen Habseligkeiten alphabetisch aufstellen
mussten u. abgelesen wurden, dass ja keines fehlt. Dann ging's ins
"Todesauto" hinein, das sie nach Crailsheim brachte, wo noch mehrere
Todgeweihte aus anderen Gegenden auf den betreffenden Zug warteten. Die
Schwester Oberin Eytichia begleitete die Kinder bis dorthin, um zu sehen,
was mit ihnen geschah. Ihr Eisenbahnwagen war ein dunkles Loch fast ohne
Licht und der Weg führte Auschwitz zu, wo sie wohl vergast wurden, denn 3
von ihnen kamen mit dem Leben davon, weil sie altershalber zum
Arbeitseinsatz genommen wurden. Ein Trost war es noch für das Haus, dass 6
Kinder in letzter Stunde hier noch auf die Erstkommunion vorbereitet
wurden und zwei Tage vor der Abreise hier noch Erstkommunion feierten. Ein
Verbrechen, das an unschuldigen Kindern verübt wurde, das wahrlich zum
Himmel um Rache schreit.
Brief einer Mutter
Werte Schwester Oberin!
Ich habe Ihr erschütterndes Schreiben erhalten. (...)
Eine Mutter konnte an den Kindern nicht anders handeln wie Sie, Fräulein
Lehrerin.
Ich möchte Ihnen noch nachträglich danken, dass Sie all den Kindern den
Abschied so leicht wie möglich machten in dieser schweren Stunde, wo die
allermeisten in ihren Tod fuhren.
Bitte schreiben Sie mir doch, wie benahmen sich meine Kinder, als sie
Abschied nehmen mussten. Bitte, bitte, verschweigen Sie mir nichts.
Mir wurde im Mai kurz nach Ihrem Schreiben von der Polizei mündlich
mitgeteilt:, dass sich meine Kinder in Auschwitz befänden. Ich fragte sie,
was wollen Sie denn noch von den armen Kindern? Die Antwort war kurz:
vernichten.
Dann wurde ich verwarnt, mich ruhig zu verhalten und keine
Annäherungsversuche zu unternehmen. Andernfalls müsste man mich und mein
jüngstes Kind aus der ersten Ehe auch in ein Konzentrationslager
überweisen, da wir ja auch nicht arisch seien. (...)
Dann ging der Krieg zu Ende und das war meine Rettung.
Von meinen Kindern habe ich nie etwas erfahren können. Jetzt fehlt jede
Spur.
Wenn man dann die Berichte über Auschwitz, Belsen und andere KZ liest,
dann wundere ich mich oft, dass ich noch nicht in ein Irrenhaus
eingeliefert wurde. Ich frage mich oft, warum ließ unser Vater im Himmel
dies alles zu? Was taten die armen Kinder denn, die von den Müttern
gerissen wurden und dann später von Ihnen, wo sie es gut hatten. Aber
trotz allem hoffe ich noch, meine Kinder wieder zu finden.
Bitte hoffen und beten Sie mit mir, damit ich endlich Gewissheit habe.
Gott stehe mir bei, dass ich auch dieses noch ertrage, wenn für mich auch
die furchtbarste Wahrheit offenbar wird. (...)
Es grüßt Sie und das Fräulein Lehrerin Ihre Franziska Kurz
(Die Hoffnung von Franziska Kurz sollte sich nicht erfüllen. In der Nacht
zum 3. August 1944 waren ihre Kinder Otto, Sonja und Thomas im
Konzentrationslager Auschwitz ermordet worden.)
"AUF WIEDERSEHEN IM HIMMEL!"
Eine andere Geschichte
Auch der damals vierzehnjährige Robert R. und seine elfjährige Schwester
Anna aus Pirmasens wurden aus einem katholischen Kinderheim direkt in den
Tod entlassen. Über das Ende der Kinder liegt ein erschütterndes Dokument
vor. Fünfzehn Jahre danach, am 11. April 1958, »bestätigte« eine Schwester
Lydia vom Katholischen Kinderhaus (Nardinihaus) das Verfolgungsschicksal
ihrer beiden Schutzbefohlenen:
Bestätigung
Wir bestätigen, dass die Kinder des Herrn Georg R., Robert und Anna, in
den Jahren 1936 - 43 wegen der wirtschaftlichen Notlage ihrer Eltern in
unserem Heim untergebracht waren. Sie waren sehr intelligente und
charakterlich wertvolle Kinder, aufgeschlossen und empfangsbereit für
alles Gute. Wir haben von diesen Kindern erzieherlich viel Freude erlebt.
Die Eltern besuchten sie oft und beeinflußten sie nur gut.
Robert war so begabt, dass er zweimal eine Klasse überspringen durfte. Vor
seiner Schulentlassung bemühten wir uns um eine Autoschlosserlehrstelle
für ihn; an diesem Berufe hatte er besonderen Spaß.
Mitte März 1943 erhielten wir vom Bezirksjugendamt Pirmasens schriftliche
Weisung, wir sollten beide Kinder ... ab sofort auf die Straße stellen ...
und ihnen sagen, sie sollten wieder zur Imsbacher Mühle gehen, wo ihre
Eltern wohnten. Wir traten daraufhin persönlich mit dem Jugendamt in
Verbindung, da wir dem Vorhaben nicht zustimmen konnten. Wir erfuhren
dort, es sei ein Befehl aus Berlin. Wenn die Kinder nicht herausgegeben
werden, müsste die Polizei einschreiten. Wir brachten die Kinder, die sich
schriftlich verpflichten mussten, nicht mehr den Stadtbezirk zu betreten,
selbst zu ihren Eltern (und ihren Geschwistern).
Nach 14 Tagen kam Robert noch einmal trotz des Polizeiverbotes in unser
Heim und berichtete, dass er von einem Zigeuner, der dem
Konzentrationslager entkommen war, erfahren habe, was ihm und seiner
Familie bevorstehen würde: planmäßiger Tod. Seinen Eltern und Geschwistern
hatte es Robert nicht mitgeteilt. Er fragte uns um Rat, ob er über die
Grenze fliehen solle. Wir rieten ihm ab, da er noch zu jung wäre, er möge
bei seinen Eltern bleiben.
Kaum war er eine Stunde von uns fortgegangen, telefonierte er von der
Imsbacher Mühle aus, dass in der Zeit seiner Abwesenheit seine Eltern und
Geschwister polizeilich abgeführt worden seien. Er wolle sich nun in
dieser Nacht das Lehen nehmen, bevor es ihm andere ohne Grund nähmen. Wir
baten ihn, dies nicht zu tun, und dass er nach seinen Eltern fragen solle.
Nach 3 Tagen erhielten wir eine Postkarte von Robert mit dem wörtlichen
Inhalt:
"Ich habe meine Eltern und Geschwister wieder gefunden. Wir sind auf dem
Transport in das Konzentrationslager. Ich weiß, was uns bevorsteht, meine
Eltern wissen es nicht. Ich habe mich nun innerlich so weit durchgerungen,
dass ich auch den Tod ertragen werde. Ich danke noch einmal für alles
Gute, das Sie mir erwiesen. Grüße an alle Kameraden. Auf Wiedersehen im
Himmel! Euer Robert."
Erst 1947 erfuhren wir von Ottilie R., der Schwester Roberts, die 1945 aus
dem Lager Auschwitz entlassen wurde, dass die beiden schuldlosen Kinder
Robert und Anna sowie ihre schuldlosen Eltern noch 1943 im Lager Auschwitz
vergast worden waren.
Wir bestätigen also, dass schuldlose Kinder, weil sie einer bestimmten
Menschenrasse angehörten, grausamem Schicksal ausgeliefert worden sind.
Im Auftrage,
gezeichnet Schwester Lydia.
aus:
Michail Krausnick, Auf Wiedersehen im Himmel, 2001 |