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08.11.1943. Aus dem Tagebuch von A. Jeruschalmi (Ghetto Siauliai)

 


Freitag, der 5.November 1943, war der schwärzeste Tag in unserem freudlosen Ghettoleben: Man nahm uns die Kinder fort.
Morgens, als alle zur Arbeit gehen wollten, erklärte der Posten, er habe Anweisung, niemanden durchzulassen. Alle stürzten in ihre Häuser und begannen, sich zum Transport fertigzumachen, da sie annahmen, an weit entfernte Orte verschickt zu werden, wie es in Wilna und Kaunas geschehen war. Um 7 Uhr 30 erschien Hauptsturmführer Forster im Gebäude des «Judenrates», dann kam noch der berüchtigte Schwandt. Außerdem waren, speziell aus Kaunas, mit Maschinenpistolen bewaffnete Henkersknechte eingetroffen.*  Beim Ghetto fuhren geschlossene Lastwagen vor. Forster wandte sich mißbilligend an den Posten: Warum sind die Arbeiter nicht hinausgelassen worden? Er ordnete an, alle unverzüglich zur Arbeit zu schicken. Die Anordnung Forsters wurde den Ghettobewohnern bekanntgegeben, worauf sich alle - ob alt oder jung - sofort zum Tor begaben. Viele von ihnen hatten ihre Kinder bei sich. Doch am Tor stand bereits der Kommandant Schleef, der die Kinder nicht durchließ.
Als die Arbeiter fort waren, befahl Forster, die Tore zu schließen. «Ich habe Anweisung erhalten, alle Kinder bis zu dreizehn Jahren und alle arbeitsunfähigen Erwachsenen aus dem Ghetto zu schaffen. Die Kinder kommen nach Kaunas und werden in Kinderheimen untergebracht, die Erwachsenen werden sie beaufsichtigen. Dort werden alle jüdischen Kinder aus den Lagern zusammengeführt. Damit alle beruhigt sind und sich von der Wahrhaftigkeit meiner Worte überzeugen können, werden zwei Mitglieder des <Judenrates>, Kartun und A. Katz, als Begleiter mitfahren. Wenn die Kinder untergebracht sind, kommen die Mitglieder des <Judenrates > zurück und überbringen Ihnen Grüße.»
Die Vertreter des «Judenrates» versuchten, Widerspruch anzumelden. «Wie kann man nur die Kleinkinder von ihren Eltern trennen?» Darauf erwiderte Forster: «Tempo! Ich bin gehalten, die Anweisung auszuführen.»
Vor dem Ghetto stand bereits eine vielköpfige Wachmannschaft in Bereitschaft. Forster betrat die Baracke im Lagerraum « Semlin », in der etwa 250 Personen lebten. Er übermittelte ihnen die Anweisung und jagte sie danach alle auf den Hof. Auf dem Hof wurden die Leute selektiert: Alte, Kranke und Kinder auf einer Seite, Junge und Arbeitsfähige auf der anderen.
Inzwischen waren geschlossene Lastkraftwagen im Ghetto eingetroffen, gefolgt von einer 100 Mann starken Wachmannschaft, die mit Maschinenpistolen und Handgranaten ausgerüstet war. Sie verteilten sich nach allen Seiten, drangen in die Häuser ein und trieben alle auf den Platz hinaus. Wie bei einem Pogrom schlugen sie alles kurz und klein und raubten dabei alles, was einigermaßen wertvoll war. Sie durchsuchten jeden Passanten, nahmen ihm Uhren, Ringe und Geld ab und zogen manchen sogar splitternackt aus. Viele versuchten, sich freizukaufen, gaben alles, was sie hatten. Die Räuber nahmen es und schleppten ihre Opfer dennoch zum Sammelplatz. In einem Fall nahmen sie von jemandem Geld und taten so, als ob sie ihn freiließen, doch Minuten später schickten sie ihm andere auf den Hals, die die «Operation» vollendeten. Frauen und Kinder schlugen sie mit Kolben und beschimpften sie in unflätigster Weise. In jedem Haus, das sie durchsuchten, zerschlugen sie die Möbel, zerrissen die Kleidung und warfen sie auf die Straße. Auf der Suche nach versteckten Wertsachen rissen sie Fußböden auf, zerstörten Dachböden und Wände, ohne auch nur eine Ecke auszulassen. Sie suchten nach Kindern und schleiften sie, wenn sie sie fanden, nackt und barfuß zum Platz. Dort packten sie die Kinder bei den Haaren und an den Händen und warfen sie in die Lastkraftwagen. Sie jagten Kleinkinder, die zufällig auf den Straßen oder Höfen auftauchten, schossen auf sie und fingen sie ein. Die unglücklichen Eltern liefen ihren Kindern hinterdrein, schluchzten und flehten um Gnade. Schreie und Wehklagen erfüllten die Luft.
Es blieben zwei Orte, die mehr oder weniger sicher schienen - das Ambulatorium und die Schuhmacherwerkstatt. Schleef hatte befohlen, dort weiterzuarbeiten. Doch dieser Befehl wurde ignoriert. Man führte alle, die sich im Ambulatorium aufhielten, darunter auch Doktor Rosowski und das Mädchen Walowa, auf den Platz. Außerdem entdeckten sie auf dem Dachboden zehn Kinder und schleppten sie herbei.
Gleiches geschah in der Schuhmacherwerkstatt. Auf dem Dachboden fanden sie Kinder, die sie direkt von dort oben hinunterwarfen. Erneut durchsuchten und betasteten sie jeden einzelnen, dabei stießen sie Alte und Kinder in die Lastkraftwagen. Viele Mütter kämpften sich zu den Wagen durch und flehten die Henker an, ihre Kinder begleiten zu dürfen. Doch dieses «Glück» wurde nur vier Frauen zuteil.
... Auf dem Platz, von dem aus die Lastkraftwagen abfuhren, standen unsere Vertreter - M. Leibowitsch, Aron Katz und Kartun. Ihnen war es anfangs gelungen, durchzusetzen, daß einige Kinder freikamen, doch die Gestapo verfrachtete schließlich auch diese «Freigelassenen» auf die Lastkraftwagen. Der Hauptsturmführer befahl Leibowitsch, sich zu entfernen. Katz und Kartun blieben. Katz hatte die «Frechheit» besessen, darum zu bitten, daß die Kinder mit Wasser und Essen versorgt werden. Der Kommandant befahl ihm, zusammen mit den Kindern zu fahren.
All das ereignete sich zwischen 7 und 16 Uhr. Die Eltern standen auf dem Platz neben der Fabrik und mußten mit ansehen, wie ihre Kinder herbeigeschleppt wurden, unfähig, ihnen zu Hilfe zu eilen. Es ist unmöglich, sich ihre Verzweiflung vorzustellen.
Angaben des Kommandanten zufolge wurden insgesamt 816 Personen abtransportiert, darunter auch Leute aus anderen Lagern. Es wird jedoch geschätzt, daß auf den 21 Fahrzeugen mehr als 1000 Personen fortgeschafft wurden. Ähnliche Aktionen fanden in Daugailiai und in Pavenciai statt. Von dort wurden 15 Kinder und Alte fortgebracht, außerdem neun Personen - fünf Kinder und vier Alte - aus dem Lager am Flugplatz.
...Unter den Abtransportierten befanden sich: der Rabbiner M. Rubinstein ; der Autor mehrerer Bücher Joffe; der Invalide Rudnik, ein hochbegabter und vielversprechender Dichter; der Maler Furman, der viele Jahre als Bühnenbildner des jüdischen Theaters tätig gewesen war. Furman hatte im Lager krank zu Bett gelegen, doch nie den Mut verloren. Er hatte sich über sein Leiden erhoben und fest daran geglaubt, den lichten Tag der Befreiung zu erleben.

* Die Aktion wurde von einer Kompanie von Wlassowleuten mit dem Zeichen «ROA» (Russische Befreiungsarmee) durchgeführt.

Zum Druck vorbereitet von O. SAWITSCH


aus:
Wassili Grossmann, Ilja Ehrenburg (Herausgeber)
Das Schwarzbuch, Der Genozid an den sowjetischen Juden
(in deutscher Sprache herausgegeben von Arno Lustiger), 1994