Mit Äxten gegen die
Todesmaschine
Vor 60 Jahren versuchten einige Häftlinge einen Aufstand in Auschwitz
Heute vor 60 Jahren wurden die Auschwitzer Krematorien zum Schauplatz
einer dramatischen Häftlings-Revolte, die als einziger bewaffneter
Aufstand im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau in die Geschichte
einging. Es waren die jüdischen Sonderkommando-Häftlinge der größten
nationalsozialistischen Todesfabrik - Zwangsarbeiter der vier Krematorien
mit Gaskammern -, die sich in einem ungleichen Kampf gegen ihre Mörder
auflehnten und einen Fluchtversuch wagten. Das tragische Ereignis kostete
am 7. Oktober 1944 insgesamt 451 Häftlingen das Leben. Obwohl mutige
Aufständische ein Krematorium in Brand setzten und drei SS-Männer töteten,
konnten sie die Judenvernichtung nicht aufhalten. Der Aufstand konnte
keine Rettungsaktion mehr sein. Ihre militärische Niederlage während der
Revolte mündete jedoch in einem moralischen Sieg über die Unmenschlichkeit
der Deutschen in Auschwitz.
Der Aufstand des Sonderkommandos wurde zu einem Racheakt der gepeinigten
Krematoriumsarbeiter, die von der SS zur grauenvollen Spurenbeseitigung
der Judenvernichtung gezwungen wurden. Zu ihren Aufgaben gehörte es, die
mit Leichen gefüllten Gaskammern zu leeren und zu reinigen, die Körper der
Toten auf Wertsachen zu untersuchen und ihnen die Haare abzuschneiden, die
Goldzähne auszureißen, die Leichen in den Krematoriumsöfen oder
Verbrennungsgruben einzuäschern sowie die Knochenreste zu zerschlagen und
die Asche zu verstreuen. Wer die Zwangsarbeit verweigerte oder
arbeitsunfähig wurde, den ermordete die SS als „Geheimnisträger" sofort,
da die Sonderkommando-Häftlinge nicht als einzige Augenzeugen der
Vernichtung überleben sollten.
Ihre infernalische Zwangsarbeit führte die vom restlichen Lager isolierten
Häftlinge des Todeskommandos in ein moralisches Dilemma, das von
Selbstverachtung und Selbstvorwürfen geprägt war. Die Widerstandstätigkeit
im Sonderkommando hatte dagegen enormen Einfluss auf das moralische
Überleben der Häftlinge, die damit versuchten, ihre Ehre wieder
herzustellen.
Eine aktive Widerstandsgruppe wurde im Sonderkommando im Herbst 1943
aufgebaut. Der Planungsstab der Widerstandsgruppe im 200 bis fast 900 Mann
starken Sonderkommando setzte sich aus etwa einem Dutzend Männern und drei
bis vier Dutzend eingeweihten Aktivsten zusammen. Die militärische
Erfahrung der Gruppe war gering und beschränkte sich primär auf die seit
Frühsommer 1944 bestehende Kooperation mit 19 sowjetischen
Kriegsgefangenen im Sonderkommando. Den eingeweihten Häftlingen ging es
bei der Planung des Aufstands weniger darum, das eigene hoffnungslose
Leben zu retten als dem eigenen Leiden ein menschenwürdigeres Ende zu
bereiten. Ziel war es, die Vernichtungsanlagen zu zerstören und dabei so
viele SS-Aufseher wie möglich zu töten. Mit einer möglichen Flucht wurde
die Absicht verfolgt, der Außenwelt über die grauenvollen Verbrechen in
Auschwitz Zeugnis abzulegen.
Über Vertrauensleute aus anderen Häftlingskommandos wurde Ende 1943
Kontakt mit dem Allgemeinen Lagerwiderstand aufgenommen und somit die
Grundlage für die Planung eines umfassenden Lageraufstands geschaffen. Die
Koordination eines großen Aufstands mit der Kampfgruppe Auschwitz, in der
sich die Widerstandsgruppen des gesamten Lagers vereinigten, führte jedoch
dazu, dass die Durchführung des Sonderkommando-Aufstands so weit verzögert
wurde, bis eine günstige Gelegenheit dazu verpasst war. Diese
Verzögerungstaktik hatte einen einfachen Grund: Während das Sonderkommando
ohnehin mit seiner kurzfristigen Liquidierung rechnen musste, hofften die
meisten anderen Häftlinge auf eine Befreiung durch die Rote Armee. Doch
nicht nur die Interessenkonflikte mit der Kampfgruppe Auschwitz, auch
Unstimmigkeiten innerhalb der Leitung der Widerstandsgruppe im
Sonderkommando sowie Rivalität und Verrat in den eigenen Reihen
erschwerten die Durchführung eines Aufstands.
Waffen aus dem Krematorium
Unterstützt wurde das Sonderkommando von verbündeten Häftlingsfrauen aus
der Union-Munitionsfabrik in Auschwitz, die unter größter Gefahr
Schießpulver entwendeten, das bis in die Krematorien geschmuggelt werden
konnte. Das Sonderkommando baute daraus Granaten, besorgte sich zudem
Hieb- und Stichwaffen aus der Habe der im Krematorium Ermordeten, Benzin
über Verbindungsleute im Männerlager sowie isolierte Drahtzangen für den
elektrisch geladenen Lagerzaun.
Als von der SS eine „Selektion des Sonderkommandos" - eine euphemistische
Beschreibung für Liquidierungen - für die Mittagszeit des 7. Oktober
angesetzt wurde, kündigten einige der betroffenen Häftlinge an, nicht
widerstandslos in den Tod zu gehen. Die Führung der Widerstandsgruppe im
Sonderkommando beschloss, die Betroffenen nicht in ihrem Kampf zu
unterstützen. Sie begründete das damit, dass ein Aufstand um die
Mittagszeit und unter diesen Umständen ohnehin keine Aussicht auf Erfolg
hätte und dass sie ihre eigenen Pläne nicht gefährden wollte. Sie setzte
stattdessen noch für den späten Nachmittag desselben Tages, an dem die
angekündigte Selektion stattfinden sollte, kurzfristig einen autorisierten
Aufstandstermin an.
Am Mittag des 7. Oktober 1944 brach während des Häftlingsappells vor
Krematorium III eine eigenmächtige Revolte aus. Einige Dutzend Häftlinge
des dritten und vierten Krematoriums, die zu ihrer Liquidierung abgeholt
werden sollten, griffen die SS mit Äxten und Steinen an. Während einige
SS-Posten die Aufständischen auf dem Krematoriumsgelände in Schach
hielten, setzten Häftlinge das Krematoriumsgebäude in Brand. Eine nach
wenigen Minuten anrückende schwerbewaffnete SS-Einheit beendete den
Aufruhr rasch und ermordete die Häftlinge bis auf wenige Ausnahmen
gruppenweise durch Genickschuss.
Die Sonderkommando-Häftlinge im ersten Krematorium deuteten den Rauch des
brennenden Krematoriums III als Zeichen zum Aufstand und schlugen
fatalerweise zweieinhalb Stunden vor dem von der Widerstandsführung
festgesetzten Termin ebenfalls los. Der Einsatz selbstgebauter Granaten
misslang jedoch. Häftlinge warfen ihren deutschen Kapo bei lebendigem Leib
in den Verbrennungsofen und durchschnitten den Stacheldraht des Geländes
von Krematorium I sowie des benachbarten Frauenlagers. Etwa 100
Sonderkommando-Häftlinge unternahmen eine Massenflucht, töteten in deren
Verlauf drei SS-Angehörige und verwundeten zwölf schwer. Einem Dutzend
Häftlingen gelang es, drei Kilometer weit zu flüchten, bis sie gestellt
wurden. Sie verschanzten sich in einer Scheune und leisteten mit auf der
Flucht erbeuteten Schusswaffen erbitterten Widerstand. Die SS setzte die
Scheune mit den Rebellen schließlich in Brand. Keiner der Flüchtlinge
entkam.
Der zu früh ausgelöste Aufstand führte zu einem Blutbad, die
Revoltierenden hatten keine Chance: 451 von 661 Häftlingen des
Sonderkommandos wurden an diesem Tag erschossen, die Mehrheit gehörte
nicht einmal zu den unmittelbar Aufständischen, sondern wurde im Rahmen
von Vergeltungsmaßnahmen ermordet. Die aus 169 Häftlingen bestehende
Belegschaft von Krematorium II wurde verschont, da sie sich nicht am
Aufstand beteiligt hatte. Die SS war innerhalb weniger Stunden wieder Herr
der Lage.
Trotz allem hatte das Sonderkommando Erfolg: Es konnte mit seinem
Widerstand die Moral der SS kurzzeitig brechen und diese mit ihrem Mut
über raschen. Das Sonderkommando setzte in der Todesfabrik ein Zeichen für
alle Häftlinge: Juden ließen sich nicht widerstandslos „wie die Schafe zur
Schlachtbank führen". Selbst in aussichtsloser Situation hatten sie
versucht zu kämpfen und dabei der über mächtigen SS Verluste zugefügt.
Ihre Aktion war letztlich ein Fanal gegen den perfiden Terror der SS und
gegen die Lagerapathie und Ohnmacht des einzelnen Häftlings, eine
Botschaft, die ihre symbolische Wirkung bis heute nicht verloren hat.
GIDEON GREIF
ANDREAS KILIAN
Süddeutsche Zeitung 7.10.2004
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