Am 28. Oktober um 6 Uhr morgens befahl die Gestapo allen Bewohnern des
Ghettos, das waren etwa 30 000 Menschen, sich auf einem Platz, angeblich
zur Auswahl von Arbeitskräften, zu versammeln. An diesem Tag selektierte
der Gestapo-Mann Helmut Rauche* gemeinsam mit dem Referenten für
Judenangelegenheiten «beim Stadtkommissar», Friedrich Jordan, etwa 11000
Menschen. Sie wurden bis zum nächsten Morgen in den bereits unbewohnten
Häusern des «Kleinen Ghettos» untergebracht. Am Morgen des 29. Oktober,
bei Tagesanbruch, wurden all diese Menschen ins IX. Fort getrieben und
noch am gleichen Tag erschossen.**
Am folgenden Tag, dem 30. Oktober, kehrte der zehnjährige Jitzchak Bloch
ins Ghetto zurück (er hat überlebt, obwohl er noch die furchtbaren Qualen
von Dachau und Auschwitz durchleiden mußte). Er war nur mit einem
blutverschmierten Hemd bekleidet und berichtete folgendes:
Am Tage der «Selektion» war er zusammen mit seinen Eltern ins «Kleine
Ghetto» gebracht worden, von wo sie alle ins IX. Fort gejagt wurden. Dort
befahlen sie allen Männern, sich bis auf die Unterhosen, und allen Frauen,
sich bis auf den Büstenhalter zu entkleiden. Die halbnackten Menschen
jagte man gruppenweise aufs Feld, wo Gruben ausgehoben waren, in die sie
springen mußten. Dort brachte man sie um. Kleine Kinder spießten sie mit
dem Bajonett auf und warfen sie in die Gruben. Die Mutter von Jitzchak
Bloch hatte ihrem Sohn zugerufen, er solle versuchen, sich zu retten. Er
lief fort, sie schössen hinter ihm her. Er fiel in Sträucher, die Kugeln
verfehlten ihn. Als es zu dunkeln begann, die Schüsse und das Wehklagen
verstummten, erhob er sich und lief fort. Im Morgengrauen stahl er sich
ins «Kleine Ghetto». Doch es war menschenleer und zerstört. Er saß den
ganzen Tag über in einem Keller und schlich sich abends ins «Große Ghetto», das noch bewohnt war.
Als Jitzchak seinen Bericht beendet hatte, sträubten sich die Leute, ihm
zu glauben. Man nahm an, daß er den Verstand verloren habe.
* Helmut Rauche (auch Rauka)
war SS-Hauptscharführer; von 1941 bis Mitte 1942 Referent für Judenfragen
der Gestapo, führte er alle großen Aktionen im Ghetto von Kaunas an. Nach
dem Krieg lebte er in Kanada; wurde 1986 von einem Gericht in Toronto des
Mordes an Juden für schuldig befunden und nach Deutschland ausgeliefert.
Des Mordes an mehr als 11 500 Menschen angeklagt, starb er im Gefängnis.
** Dem Bericht vom 29.November 1941 zufolge wurden bei der
«Säuberung des Ghettos von überflüssigen Juden», der sogenannten «Großen
Aktion», 2007 jüdische Männer, 2920 jüdische Frauen und 4273 Kinder
(insgesamt 9200 Menschen) erschossen.
aus:
Wassili Grossmann, Ilja Ehrenburg (Herausgeber)
Das Schwarzbuch, Der Genozid an den sowjetischen Juden
(in deutscher Sprache herausgegeben von Arno Lustiger), 1994
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