Nachdem am 08. September 1941 die letzte Landverbindung nach Leningrad
unterbrochen wurde, erschien am 22.September die deutsche geheime Weisung Nr. Ia
1601/41. Sie trug die Überschrift »Die Zukunft der Stadt Petersburg.« Hier
hieß es:
"1. Der Führer hat beschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden zu
vertilgen. Nach dem Sieg über Sowjetrußland wird es für das Weiterbestehen
dieser großen Stadt nicht mehr den geringsten Anlaß geben. Finnland hat
ebenfalls erklärt, es sei an einem Weiterbestehen dieser unmittelbar vor
seinen neuen Grenzen gelegenen Stadt nicht interessiert.
2. Der Wunsch der Kriegsmarine, die Werften, den Hafen und die
Schiffahrtseinrichtungen zu erhalten, ist dem OKW bekannt. Seine Erfüllung
wird jedoch angesichts der allgemeinen, Petersburg betreffenden
Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden können.
3. Es ist vorgeschlagen worden, die Stadt mit einem festen Ring zu
umschließen und sie durch Artilleriefeuer aller Kaliber und pausenlose
Luftangriffe dem Erdboden gleichzumachen. Wenn das dazu führt, daß die
Kapitulation der Stadt angeboten wird, ist dies abzulehnen…“
Vor dem großen Bombardement am 7. November 1941, dem 24. Jahrestag der
Revolution, warfen die Deutschen Flugblätter ab:
"Gehet zu den Bädern. Zieht eure weißen Kleider an. Eßt das Totenmahl.
Legt euch in die Särge und macht euch zum Sterben bereit. Am 7. November
wird der Himmel blau sein - blau von den Detonationen deutscher Bomben."
Harrison E. Salisbury:
"Bei der Belagerung Leningrads sind mehr Menschen umgekommen als irgendwo
oder irgendwann in einer modernen Stadt, mehr als zehnmal soviel wie in
Hiroshima.
Wie viele Menschen sind in der Blockade von Leningrad gestorben? Selbst
bei gewissenhaftester Berechnung können sich Unterschiede von ein paar
Hunderttausend ergeben. Die ehrlichste Erklärung war eine offizielle
sowjetische Antwort auf eine offizielle schwedische Anfrage, die in der
sowjetischen Armeezeitung >Roter Stern< am 28. Juni 1964 veröffentlicht
wurde: »Niemand weiß genau, wie viele Menschen in Leningrad und im Raum
von Leningrad gestorben sind.«
Bei Beginn der Blockade hatte
Leningrad etwa 2 500 000 Einwohner einschließlich von 100 000
Flüchtlingen. Ende 1943, als die Blockade allmählich zu Ende ging, hatte
Leningrad noch etwa 600 000 Einwohner, weniger als ein Viertel seiner
Einwohnerschaft zur Zeit des Falls von Mga am 30. August 1941.
Nach sehr
sorgfältigen Berechnungen sind während der Belagerung etwa eine Million
Leningrader evakuiert worden: 33 449 auf dem Wasserweg über den Ladogasee
im Herbst 1941, 35 114 im November/Dezember 1941 auf dem Luftwege, 36 118
im Dezember 1941 und bis zum 22. Januar 1942 über die Eisstraße, 440 000
zwischen Mai und November 1942, 15 000 im Jahr 1943. Außerdem gingen etwa
100 000 Leningrader zum Kriegsdienst an die Front. Danach dürften nicht
weniger als 800 000 Personen während der Blockade in Leningrad an Hunger
gestorben sein. In dieser Zahl von 800 000 sind aber die Tausende nicht
enthalten, die in den Vorstädten und bei der Ausreise gestorben sind. Das
waren sehr viele. Zum Beispiel, auf der kleinen Station Borisowa Griwa am
Ladogasee starben vom Januar bis zum 15. April 1942 2200 Personen. Nach
der Leningrader Enzyklopädie schätzt man die Zahl der Todesfälle, die
während der Evakuierung eintraten, auf >Zehntausende<.
Die militärischen Gesamtverluste
bei den Kämpfen um Leningrad lagen wahrscheinlich zwischen 100 000 und 200
000.
Einer der vorsichtigsten sowjetischen Experten schätzt, daß in Leningrad
»nicht weniger als eine Million« an Hunger gestorben sind. Dieser
Auffassung schließen sich auch die heutigen hohen Funktionäre in Leningrad
an. Am 20. Jahrestag der Aufhebung der Blockade schrieb die >Prawda<, daß
»die Welt noch nie eine ähnliche Massenvernichtung der Zivilbevölkerung,
so furchtbare menschliche Leiden und Entbehrungen erlebt hat, wie sie das
Schicksal den Leningradern aufgebürdet hat«. Wahrscheinlich sind in
Leningrad und seiner unmittelbaren Umgebung mehr als eine Million Menschen
verhungert, und die Gesamtziffer der militärischen und zivilen Verluste
liegt bei 1 300 000 bis 1 500 000 Personen.
Die Deutschen hatten nahezu 2 Millionen Quadratmeter Wohnraum vernichtet,
das waren Unterkünfte für 716000 Personen. 526 Schulen und Kinderheime, 21
wissenschaftliche Institute, 101 Museen und andere öffentliche Gebäude,
das Observatorium in Pulkowo, das Botanische Institut, das Zoologische
Institut, ein großer Teil der Leningrader Universität und 187 der 300
unter Denkmalschutz stehenden Häuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert, 840
Fabriken und 71 Brücken waren vernichtet, und damit war die Liste der
zerstörten Werte noch nicht zu Ende. Allein die Eremitage war von 32
Granaten und 2 Bomben getroffen worden. Mehr als 30 000 m2
Ausstellungsfläche und etwa 7 000 m2 Fensterscheiben waren in der
Eremitage beschädigt. Man schätzte den Gesamtschaden in Leningrad auf 45
Milliarden Rubel.
siehe:
Harrison E. Salisbury
900 Tage. Die Belagerung von Leningrad, 1989
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