BERDITSCHEW,
Stadt in der Oblast Shitomir, Ukraine, bekannt seit dem 14. Jahrhundert.
Juden lebten in Berditschew seit dem 16. Jahrhundert. Die Stadt wurde zu
einem Zentrum des Chassidismus, war Sitz des berühmten Rabbiners Levi
Yitzhak von Berditschew und im 19. Jahrhundert ein Zentrum der Haskala
(jüdische Aufklärung).
Unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg zählte Berditschew über 30 000 Juden
bei einer Gesamtbevölkerung von 66306 Menschen.
Als die Stadt am 7. Juli 1941 von der Wehrmacht eingenommen wurde, lebten
20 000 Juden in Berditschew. Drei Tage später legte der Stadtkommandant
den Juden eine kollektive Kontribution von 100 000 Rubeln in Bargeld und
Wertgegenständen auf. Juden wurden gejagt, ganze Gruppen wurden ermordet,
und Synagogen wurden angezündet, während die Gläubigen beim Gebet waren-.
Am 25. August 1941 erhielten die Juden von Berditschew den Befehl, in ein
Ghetto im ärmsten Teil der Stadt umzuziehen; das Ghetto war innerhalb
kürzester Zeit völlig überbelegt.
Am 4. September 1941 wurden auf Befehl des Höheren SS- und Polizeiführers
der Ukraine 1 000 junge Juden festgenommen und am Stadtrand erschossen.
Eine Einheit, bestehend aus deutscher und ukrainischer Polizei, umzingelte
am 15. September 1941 das Ghetto.
18 600 Menschen wurden an bereits vorbereiteten Gruben erschossen, 400
Handwerker und ihre Familien, insgesamt 2 000 Menschen, blieben von den
Erschießungen verschont.
2 000 weitere Juden wurden am 3. November 1941 ermordet, so daß nur noch
150 Handwerker am Leben blieben. Im folgenden Frühjahr, am 7. April 1942,
wurden 70 Jüdinnen, die mit Nichtjuden verheiratet waren und außerhalb des
Ghettos lebten, zusammen mit ihren Kindern ermordet. Am 16. Juni 1942
wurden weitere 90 Handwerker ermordet.
Ende Oktober 1943, als sich sowjetische Truppen näherten, wurden die noch
lebenden Juden ermordet. Als Berditschew am 15. Januar 1945 befreit wurde,
fanden sich in der Stadt noch 15 Juden.
siehe:
Enzyklopädie des Holocaust, Band I
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Der deutsche Kommandant weihte den Vorsitzenden der Stadtverwaltung Röder
(einen russifizierten Deutschen, einen Kriegsgefangenen des ersten
Weltkrieges) und den Polizeichef - den Verräter Koroljuk - in die geplante
Operation ein. Röder und Koroljuk nahmen aktiv an der Organisierung und
Durchführung der Hinrichtung teil. Am 14. September trafen in Berditschew
Teile einer SS-Kompanie ein, mobilisiert wurde auch die städtische
Polizei. In der Nacht vom 14. zum 15. September umstellten Soldaten das
Ghetto. Um 4 Uhr morgens begannen SS-Leute und Polizisten, auf ein Signal
hin, in die Unterkünfte einzudringen, die Menschen hochzureißen und auf
den Marktplatz hinauszujagen.
Viele von denen, die nicht gehen konnten - gebrechliche Alte und Krüppel
-, erschlugen die Henker gleich in den Häusern. Das schreckliche Wehklagen
der Frauen und das Weinen der Kinder weckten die ganze Stadt. In den
entlegensten Straßen erwachten die Menschen und vernahmen mit Grausen das
tausendfache Stöhnen, das sich zu einem einzigen herzzerreißenden
Aufschrei verdichtete.
Bald war der Marktplatz gefüllt, auf einer kleinen Anhöhe standen Röder
und Koroljuk, von Wachen umgeben. Ihnen wurden Gruppen von Leuten
zugeführt, aus denen sie jeweils zwei bis drei Personen - bekannte
Fachleute - auswählten. Die Ausgesonderten mußten zur Seite treten, zu
jenem Teil des Platzes, der an die Bolschaja-Shitomirskaja-Straße grenzte.
Die Todgeweihten wurden zu Kolonnen formiert und unter verschärfter
SS-Bewachung über die Brodskaja-Straße durch die Altstadt in Richtung
Flugplatz getrieben. Bevor die Kolonnen aufgestellt worden waren, hatten
die SS-Leute und Polizisten ihre Opfer aufgefordert, Wertgegenstände und
Dokumente auf die Erde zu legen. Dort, wo Röder und Koroljuk standen, war
der Boden bedeckt mit Zeugnissen, Ausweisen, Bescheinigungen und
Gewerkschaftsbüchern.
Ausgesondert worden waren 400 Personen - unter ihnen die alten Ärzte:
Wurwarg, Baraban, Liberman, die Ärztin Blank, in der Stadt geschätzte
Handwerker und Facharbeiter, u. a. der Elektro- und Radiomonteur Epelfeld,
der Fotograf Nushni, der Schuhmacher Milmeister, der alte Maurer Pekelis
mit seinen Maurersöhnen Michel und Wulf, als Meister ihres Fachs bekannte
Schneider, Schuhmacher, Schlosser und einige Frisöre. Den ausgesonderten
Fachleuten gestattete man, ihre Familien mitzunehmen. Viele von ihnen
konnten Frauen und Kinder, die sich in der riesigen Menge verloren hatten,
nicht finden. Nach Berichten von Augenzeugen haben sich erschütternde
Szenen abgespielt: In der Hoffnung, die zum Wahnsinn getriebene Menge
übertönen zu können, schrien die Menschen die Namen ihrer Frauen und
Kinder hinaus, während Hunderte dem Untergang geweihte Mütter ihnen ihre
Söhne und Töchter entgegenstreckten und sie anflehten, diese als ihr eigen
anzunehmen, um sie so vor dem Tode zu retten. «Euch kann es gleich sein,
in diesem Haufen werdet ihr die Euren niemals finden!» - riefen die
Frauen.
Gleichzeitig mit den Kolonnen der Fußgänger bewegten sich Lastwagen durch
die Brodskaja-Straße. Darin wurden schwache Greise, kleine Kinder und all
jene transportiert, die unfähig waren, die vier Kilometer, die Jatki vom
Ort der Hinrichtung trennten, zu Fuß zurückzulegen. Das Bild dieser
dahinziehenden tausendköpfigen Menge von Frauen, Kindern und Alten war so
schrecklich, daß Augenzeugen, wenn sie davon berichten oder sich daran
erinnern, noch heute erbleichen und weinen. Die Frau des Priesters Gurin,
die in der Straße wohnte, durch die die Menschen zur Hinrichtung getrieben
wurden, fiel in Ohnmacht, nachdem sie die unzähligen um Hilfe bittenden
Frauen und Kinder, darunter viele Bekannte, gesehen hatte. Noch Monate
danach lebte sie in einem Zustand seelischer Erschütterung.
Gleichzeitig fanden sich aber auch dunkle, verbrecherische Elemente, die
aus dem großen Unglück materielle Vorteile zogen, die, gierig und
gewinnsüchtig, bereit waren, sich auf Kosten der Opfer der Deutschen zu
bereichern. Polizisten und Angehörige ihrer Familien, Liebchen der
deutschen Soldaten und andere zweifelhafte Gestalten stürzten in die
verlassenen Wohnungen und raubten sie aus. Vor den Augen der
Todeskandidaten schleppten sie Kleider, Lebensmittel und Federbetten fort;
manche durchbrachen sogar die Absperrung und rissen den Frauen und
Mädchen, die zur Hinrichtung geführt wurden, die Kleider und wollenen
Strickjacken vom Leib.
Währenddessen erreichte die Spitze der Kolonne den Flugplatz.
Die angetrunkenen SS-Leute führten die erste Gruppe von 40 Personen an den
Rand der Grube. Die ersten Salven aus Maschinenpistolen waren zu hören.
Der Hinrichtungsplatz war 50 bis 60 Meter vom Weg entfernt, auf dem man
die Todgeweihten entlangführte. Tausende von Augenpaaren sahen, wie die
erschossenen Alten und Kinder niedersanken. Dann wurden neue Gruppen zu
den Flugzeughangars getrieben, die dort warten mußten, bis die Reihe an
ihnen war.
Von den Hangars her führte man Gruppen zu je 40 Personen heran. Sie mußten
ungefähr 300 Meter über das unebene, höckerige Flugfeld zurücklegen.
Während die SS-Leute den ersten Schub erschossen, wartete der zweite
bereits ohne Oberbekleidung einige Dutzend Meter von den Gruben entfernt,
und ein dritter wurde inzwischen von den Hangars herangebracht.
Obwohl die überwiegende Mehrzahl der an diesem Tag ermordeten Menschen
schwache Greise, Kinder und Frauen mit Säuglingen auf den Armen waren,
fürchteten die SS-Leute dennoch ihren Widerstand. Deshalb befanden sich am
Hinrichtungsplatz stets mehr Henker mit Maschinenpistolen als wehrlose
Opfer.
Einen ganzen Tag lang dauerte diese ungeheuerliche Vernichtung von
Unschuldigen und Hilflosen, einen ganzen Tag lang wurde Blut vergossen.
Die Gruben waren übervoll von Blut, das der tonhaltige Boden nicht
aufsaugen konnte. Das Blut trat über die Ränder, stand in großen Lachen,
bildete Rinnsale und sickerte in tiefer liegendes Gelände. Verletzte, die
in die Gruben fielen, starben nicht an ihren Schußwunden, sondern
erstickten, ertranken im Blut, das die Gruben füllte. Die Stiefel der
Henker waren von Blut durchweicht, die Opfer schritten durch Blut zu ihrem
Grab. Den ganzen Tag war die Luft von den Schreien der Sterbenden erfüllt,
die Bauern der nahegelegenen Gehöfte flohen ihre Häuser, um das Wehklagen,
das kein menschliches Herz ertragen kann, nicht hören zu müssen. Den
ganzen Tag lang sahen die Menschen, die in endlosen Kolonnen an der
Richtstätte vorbeizogen, ihre Mütter, Schwestern und Kinder bereits am
Rande der Grube stehen, an den sie, in ein oder zwei Stunden, selbst
unweigerlich herantreten würden. Und den ganzen Tag waren Worte des
Abschieds zu vernehmen.
« Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen, bald treffen wir uns wieder!» - tönte
es von der Chaussee herüber. «Auf Wiedersehen!» -antworteten jene, die an
der Grube standen. Die Luft war erfüllt von wehen Klagen; Namen von
Verwandten wurden herausgeschrien, letzte Abschiedsworte verhallten. Die
Alten beteten laut und verloren selbst angesichts dieser teuflischen
Allmacht nicht den Glauben an Gott.
An diesem Tag, dem 15. September 1941, wurden auf dem Feld nahe dem
Berditschewer Flugplatz 12000 Menschen ermordet, zumeist Frauen, Mädchen,
Kinder und Alte.
Alle fünf Gruben waren bis zum Rand gefüllt, man mußte Erdhügel
aufschütten, um die Körper zu bedecken. Die Erde bewegte sich, als winde
sie sich in Krämpfen. Nachts krochen von den noch Lebenden viele aus den
Grabhügeln heraus. In die aufgewühlte Erde drang frische Luft zu jenen,
die obenauf lagen, spendete den Verwundeten, deren Herz noch schlug, Kraft
und rief Bewußtlose ins Leben zurück. Sie schleppten sich über das Feld,
instinktiv bemüht, die Gruben möglichst weit hinter sich zu lassen; die
meisten starben, entkräftet oder verblutend, dort auf dem Acker, wenige
Dutzend Sashen vom Ort der Hinrichtung entfernt.
Den Bauern aus Romanowka, die bei Tagesanbruch in die Stadt fuhren, bot
sich ein mit Leichen übersätes Feld dar. Am Morgen beseitigten die
Deutschen und die Polizisten die Leichname, erschlugen all jene nun
endgültig, die noch atmeten, und begruben sie ein zweites Mal. Dreimal
innerhalb kurzer Zeit öffnete sich der Boden über den Gräbern, vom inneren
Druck in die Höhe getrieben; eine blutige Flüssigkeit trat über die Ränder
und ergoß sich über das Feld.
Dreimal trieben die Deutschen die Bauern zusammen und zwangen sie, neue
Hügel auf den Gräbern aufzuschütten.
Zwei Kinder, die am Rande der Gräber gestanden hatten, sind - so wird
berichtet - wie durch ein Wunder gerettet worden. Eines von ihnen war
Garik, der zehnjährige Sohn des Ingenieurs Nushni. Der Vater, die Mutter
und die sechsjährige Schwester wurden ermordet. Als Garik, zusammen mit
der Mutter und dem Schwesterchen, an den Rand der Grube trat, rief die
Mutter, in der Hoffnung, ihn retten zu können: « Dieser Junge ist ein
Russe, es ist der Sohn meiner Nachbarin!» Die anderen Todgeweihten
bestätigten es lautstark. Ein SS-Mann stieß den Jungen zur Seite. Bis zum
Einbruch der Dunkelheit lag er im Gebüsch am Wegrand, dann lief er in die
Stadt zur Belopolskaja Straße und dort in das Haus, in dem er bisher sein
kleines Leben verbracht hatte.
Er betrat die Wohnung von Nikolai Wassiljewitsch Nemolowski, einem Freund
des Vaters, und brach, als er die ihm bekannten Gesichter erblickte, von
einem Weinkrampf geschüttelt, zusammen. Er berichtete, wie sein Vater, die
Mutter und Schwester ermordet worden waren und unbekannte Menschen, von
denen keiner mehr unter den Lebenden weilte, ihn gerettet hatten. Die
ganze Nacht schluchzte er, sprang immer wieder aus dem Bett und wollte
unbedingt zum Ort der Hinrichtung zurücklaufen.
Die Nemolowskis versteckten ihn zehn Tage. Am zehnten Tag erfuhr
Nemolowski, daß zu den 400 Handwerkern und Facharbeitern, die überlebt
hatten, auch Nushnis Bruder gehörte. Er ging in das Fotogeschäft, in dem
Nushni arbeitete, und teilte ihm mit, daß sein Neffe lebte. Nushni kam
nachts, um nach seinem Neffen zu sehen. Als Nemolowski dem Autor dieser
Zeilen das Wiedersehen Nushnis, der seine ganze Familie verloren hatte,
mit dem Neffen schilderte, begann er zu schluchzen und sagte: «Es ist
unmöglich, das zu erzählen.»
Einige Tage später holte Nushni den Jungen zu sich. Beide ereilte ein
tragisches Schicksal - bei der nächsten Exekution wurden sowohl der Onkel
als auch der Neffe ermordet.
Der zweite, der vom Ort des Todes entkam, war der zehnjährige Chaim
Roitman. Vor seinen Augen wurden Vater, Mutter und der jüngere Bruder
Borja erschossen. Als der Deutsche die Maschinenpistole hob, rief Chaim,
am Rande der Grube stehend, ihm zu: «Seht dort die Uhr!» und zeigte auf
ein in der Nähe liegendes glitzerndes Stückchen Glas. Als der Deutsche
sich bückte, um die vermeintliche Uhr aufzuheben, stürzte der Junge davon.
Die Kugeln aus der deutschen Maschinenpistole durchschlugen seine
Schirmmütze, doch er selbst blieb unverletzt - er rannte, bis er umfiel
und das Bewußtsein verlor. Ihn rettete, versteckte und adoptierte Gerasim
Prokofjewitsch Ostaptschuk.
So ist er wohl von all jenen, die am 15. September 1941 zur Erschießung
geführt wurden, der einzige, der den Einmarsch der Roten Armee erlebte.
siehe: Wassili Grossmann,
Ilja Ehrenburg (Herausgeber), Das Schwarzbuch, Der Genozid an den
sowjetischen Juden (in deutscher Sprache herausgegeben von Arno Lustiger),
1994
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